The cries of death touch the skies.
Neferious forces lead to inconvincible sufferings.
King Vikramadhityan was tormented.
There emerged a strange sorcerer.
The reason for all this is a vile demon.
To vanquish the demon is the only way forward.
[...]
Shall I tell a story?

Gesprochen vom wunderbaren tamilischen „Filmrollenweltrekordanwärter“ Nasser, untermalen diese Worte die Zeichentrick-Eröffnungssequenz des Films, die ohne weitere Erklärungen auf den mythologisch-folkloristischen Literatur-Ursprung der nachfolgenden Handlung verweisen. Mehr ist auch nicht nötig, denn jeder Inder kennt die im ganzen Land beliebten Vetala-Erzählungen (märchenhafte Fabeln mit Moral- bzw. Erkenntnis-Understatement, eingebettet in eine Rahmenhandlung), die noch vor dem 11. Jahrhundert in Sanskrit niedergeschrieben wurden. Jedoch wird die westliche Zuschauerschaft diesbezüglich großteilig Probleme haben, das Gesehene gleich zu Anfang einzuordnen, um es dann mit der gegenwartsgebundenen Filmstory zu assoziieren. Deshalb zunächst einmal dazu:

„Baital Pachisi“ (die 25 Erzählungen des Baital) gilt als eines der strukturellen Vorgängerwerke von „Tausendundeine Nacht“ und geht auf die mehr als 2000 Jahre alte Sanskritvorlage „Vetala Panchavimshati“ zurück, was so viel bedeutet wie „25 Erzählungen eines Dämons“ (od. „Geistes“). In der dazugehörigen Rahmenhandlung muss sich der legendäre König Vikramadhityan mit einem seltsamen Einsiedler und einem Baital (Vetala bzw. Betala in Sanskrit) herumschlagen, welcher ihm Schauergeschichten erzählt. Ein Vetala bzw. Betala ist ein untoter Wiedergänger in der hinduistischen Mythologie, der oft als gelehrt-weise bzw. wahrsagende paranormale Entität definiert wird und vom Erscheinen her vergleichbar mit dem Vampir der westlichen Mythologie ist. Spätestens jetzt aufhorchenden Horrorfilmfans sei jedoch vermittelt, dass das Regieduo nicht an den fantastischen, sondern an den anderen Elementen der altertümlichen Überlieferung interessiert war und sie somit in dieser in der Gegenwart verorteten inspiratorischen Filmadaption nicht vorhanden sind.

Inspektor Vikram ist ein vermeintlich rechtschaffener Polizist, dessen Welt einem zugrunde liegenden Schwarz-Weiß-Schema folgend klar in Gut und Böse aufgeteilt ist. Sein Einsatzgebiet ist der verruchte Norden der Mega-Metropole Chennai (ehemals Madras, sechstgrößte Stadt Indiens) und angrenzende Docks der Hafenstadt am Golf von Bengalen. Genau dort ist nämlich das organisierte Verbrechen zu Hause. Gangster und Kriminelle beherrschen die heruntergekommene Szenerie des den ärmeren Teilen der Bevölkerung vorbehaltenen Viertels. Im Zuge der Ergreifung des berüchtigten Gangsters Vedha (dem u.a. 16 Morde zur Last gelegt werden), erstürmt die Polizeitruppe um Vikram und seinen Freund Simon einen Unterschlupf von Vedhas Gefolgsmännern. Etliche Gangster werden dabei trotz Aufgabe erschossen. Um dies zu vertuschen, wird der Einsatzort „frisiert“ und die Schuld einem unbewaffnet niedergestreckten Kriminellen in die Schuhe geschoben. Während sich zu einem nachfolgenden Zeitpunkt ein Großaufgebot an Polizeikräften bereit macht, den Gangsterboss nun endlich zu fassen, marschiert Vedha gelassen auf das Gelände der Polizeistation und ergibt sich zur Überraschung aller freiwillig. Als Vikram Vedha verhört, bietet der ihm an, eine Geschichte zu erzählen.

Ein indischer Filmkritiker fühlte sich beim Aufeinanderprall der zwei tamilischen Schauspielgrößen Madhavan and Vijay Sethupathi respektive der von ihnen verkörperten Charaktere an die vielschichtige Interaktion von Batman und dem Joker in Christopher Nolans „The Dark Knight“ (2008) erinnert. Mir selbst hingegen kam beim Anblick ein ganz anderes Leinwandduell in den Sinn, nämlich das Aufeinandertreffen von Robert De Niro und Al Pachino in Michael Manns „Heat“ aus dem Jahr 1995.

Nach ihren zwei schwarzhumorig-komödiantischen Frühwerken hat sich das Regie-Ehepaar Pushkar-Gayathri eine lange Auszeit genommen, um mit diesem Jetzt-schon-Klassiker des Kollywood-Kinos ernsthafter, gereifter und anspruchsvoller zurückzukehren. Die umgerechnet für 1,6 Mill. US-Dollar (11 Crore) inszenierte Mind-Game-Kollision zweier unbändiger Charakterköpfe, die sich ein Katz-und-Maus-Spiel liefern, mit dem subtextuell die Grenzlinien überschreitenden Grauschattierungen in der menschlichen Wesensart entgegen einem starren Schwarz-Weiß-Gut-und-Böse-Konzept erörtert werden, ist in nahezu allen Belangen ein filmischer Triumph, ob nun schauspielerisch, inszenatorisch oder technisch.

Die Chemie zwischen „Maddy“ und „Makkal Selvan“ ist unglaublich. Beide Darsteller gehen völlig auf in ihrem Duell und rufen ihr bestmögliches Können ab, um den von ihnen verkörperten Protagonisten ein passendes Gesicht und der Ambivalenz ihrer Beziehung Glaubhaftigkeit zu verleihen. Als erwachsener jüngerer Bruder des Gangsters Vedha ist in der Rolle des Pulli Kathir zu sehen, der in der aktuell bei Amazon Prime Video abrufbaren Webserie „Suzhal: The Vortex“ die Hauptrolle spielt, welche ebenso von Pushkar-Gayathri inszeniert/geschrieben wurde. Dank der wunderbaren Auftritte von Shraddha Srinath und Varalaxmi Sarathkumar bekommt dieser Testosteron-geschwängerte Streifen eine weibliche Note verpasst. Bei den Beziehungs- und Eheszenen mit ihren kleinen Details wird man den Eindruck nicht los, das hier die persönlichen Erfahrungen des verheirateten Regieduos beim Schreiben der Szenen von Vorteil waren.

Generell ist das Drehbuch und das süffisante Dialog-Writing als grandios zu bezeichnen. Alles ist wichtig, jedes kleinste Detail. Mithilfe von Rückblenden wird sich langsam der Auflösung genähert, verschachtelt mit der Handlungsgegenwart. Der Cast wird bei seinem Spiel von einer mehr als herausragenden Kameraarbeit eingefangen, deren teils langen, mit Bewegung und Fahrt strotzenden Einstellungen zum passenden Gesamtaussehen des Leinwandhits beitragen, genauso wie das für die Drehs gewählte, authentische Armenviertel-Ambiente aus abegeranzt-heruntergekommenen Mietskasernen, verfallener Industriekulisse und Hafencontainertürmen. Die akzentuiert eingesetzten, aber intensiv ausgearbeiteten Actionszenen verweigern sich nicht ihrer südindischen Identität und manch einer Reminiszenz an die klassischen Manierismen des Masalakinos. Wer sich den anspruchsvollen, Content-orientierten modernen Filmwerken des südindischen Kinos jenseits der massenkompatiblen Masala-Konformität, hier - genauer geschrieben - des Tamil Cinema, widmen will, kommt an diesem intelligenten Kriminalactionthriller mit Neo-Noir-Anleihen nicht vorbei!

Trailer:
https://www.youtube.com/watch?v=1sVr-uWZPjE
Song-Score:
https://www.youtube.com/watch?v=5RKI9_B7tOg
Background-Score:
https://www.youtube.com/watch?v=7opf6dI87-U
Filmplakate:
https://i2.cinestaan.com/image-bank/1500-1500/86001-87000/86109.jpg
https://i2.cinestaan.com/image-bank/1500-1500/96001-97000/96759.jpg
https://mir-s3-cdn-cf.behance.net/project_modules/hd/78798449990827.58c4187d093ca.jpg
https://images.moviebuff.com/046b321f-1919-4572-b2d6-e1aaa188214f?w=500
https://webseriesreview.org/wp-content/uploads/2022/03/Vikram-Vedha.jpg

Einordnung: Tamil Cinema (= Kollywood)
Genre-Ausrichtung: Neo-Noir-Kriminalactionthriller
Musical-Song-Tanz-Nummern: kaum (1)

Community-Meinung zu Vikram Vedha