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Vom Schreien und Flüstern der Seele

14.10.2014 - 12:00 Uhr
Anna (Kari Sylwan) bettet die tote Agnes (Harriet Andersson) in ihrem Schoß.
Arthaus Kinowelt
Anna (Kari Sylwan) bettet die tote Agnes (Harriet Andersson) in ihrem Schoß.
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Hat uns eigentlich jemand mal gefragt, ob wir es wollen: unser Leben? Es ist schon seltsam oder? Seit unserer Geburt legt man uns die Last auf, leben zu müssen. Miteinander. Denn nur dort können wir das finden, was wir eigentlich suchen. Aber ein Leben lang ist unsere Seele eingesperrt: in unseren Körpern, in Sittlichkeit, gesellschaftlichen Konventionen, Erwartungen. Aber was ist eigentlich die Seele? Das, was sie sucht? Und was sie nicht bekommen kann? Ingmar Bergman schrieb einst nieder, er habe sich schon seit seiner Kindheit die Innenseite unserer Seele als Haut in roten Tönen vorgestellt -, ja mehr noch: die Seele sei in seiner kindlichen Vorstellung ein Drache gewesen, ein Wesen halb Vogel, halb Fisch. Ein Chaoswesen, also wie man es aus einigen mythologischen Vorstellungen kennt. Dies inspirierte Schwedens berühmtesten Regisseur zu seinem Film »Schreie und Flüstern«, in dem er genau jene Vorstellung der menschlichen Seele verfilmt: ein keifendes Untier, das im Inneren unruhig an den Gitterstäben entlanggeht, nicht befriedigt, immer mehr gereizt, bis es sich gar nicht mehr anfassen lassen will, sondern mit seinen Pranken verletzend ausschlägt ... obwohl es nur danach strebt, endlich besänftigt zu werden. Und dieses Tier tobt in jedem von uns und macht uns zu Sklaven unseres eigenen Ichs, obwohl wir Menschen uns eigentlich nach etwas anderem sehnen. Und unsere Seele, ist sie wirklich nur ein Untier? Oder nicht etwa ein zarter Vogel, der so verletzt wurde, dass ihm die Möglichkeit zu fliegen abhanden gekommen ist?

Hermann Hesse dichtete »Das Leben, das sich selbst gewählt«, das doch tatsächlich etwas nach Bergmans Schreie und Flüstern anmutet, insofern Hesse ganz ähnliche Überlegungen, die diesem Text vorausgegangen sind, in seine Verse gegossen hat:

Ehe ich in dieses Erdenleben kam
Ward mir gezeigt, wie ich es leben würde.
Da war die Kümmernis, da war der Gram,
Da war das Elend und die Leidensbürde.
Da war das Laster, das mich packen sollte,
Da war der Irrtum, der gefangen nahm.
Da war der schnelle Zorn, in dem ich grollte,
Da waren Hass und Hochmut, Stolz und Scham.

Ein ganz ähnliches Szenario entwickelt auch Ingmar Bergman in Schreie und Flüstern. Es ist ein Herbstanfang, die Bäume werden schon allmählich kahl, nachdem der Wind die toten Blätter von den Ästen nahm. Mild ist sie noch, die Jahreszeit, in der die Natur ihr ganzes Gold ausgießt und ihre Schatzkammern öffnet, zur Ernte bereit. Auch bei Bergman sieht man noch das Sonnenlicht durch die schon bald kahlen Äste scheinen, welche auf den am Boden liegenden Nebel treffen. Es ist aber auch die Jahreszeit, in der ein emsiges Treiben einsetzt, um sich auf den langen Schlaf vorzubereiten, während die Erde uns für die nächste Zeit wie tot erscheint. Auf dem Hof dreier Schwestern ist er leider schon angekommen. Agnes ist an Krebs erkrankt. Ein freies Leben ist für sie gar nicht mehr denkbar, denn ihre Krankheit räumt ihr nur noch selten Ruhe ein, die von immer heftigerem Schmerz attackiert wird. In den letzten Tagen denkt sie immer häufiger an ihre Mutter zurück, zu der sie als Kind stets Distanz wahrte und doch gleichzeitig ihre Nähe suchte und erst jetzt im Erwachsenenalter langsam zu verstehen beginnt. Sie war eine sehr schöne und stolze Frau, doch in ihren Bewegungen und Zügen ließ sich Einsamkeit, Trauer, Kälte und ein gewisser Schmerz nicht verleugnen - die Mutter war das Leben. Als diese Frau ihre Tochter Agnes einst hinter den Gardienen versteckt im roten Salon bemerkte, bat sie ihr Kind zu sich, hob wortlos mit ihrer Hand Agnes' Kinn und schaute ihrer Tochter so sorgenvoll in die Augen, dass diese den Tränen nahe zu sein glaubte.

Wie sich Agnes' Mutter bewegte und ihr Kind anschaute, schaute da ihre Seele durch die Gitterstäbe ihres Körpers und wagte einen Blick? Wir sollten zart miteinander umgehen und sanft, wenn wir uns berühren und das sollten wir auch tun. Denn tatsächlich ist die Seele kein Chaoswesen, kein Untier wie Bergman sich das in seiner Kindheit vorstellte. Vielleicht ist sie vielmehr so etwas wie ein zarter Vogel, gefangen in einem Käfig, der sich nach Sanftmut sehnt, den es aber im Leben nicht findet - und erst duch all die Narben, die ihm im Laufe des Lebens zugefügt werden, wird die Seele so verletzt, dass jede Berührung - egal ob im Guten oder im Bösen - schmerzen muss; verletzt durch Zorn, Hass, Hochmut, falschen Stolz, Lüge, Laster - so wie Hesse es dichtete. Die Gewalt - nicht immer im physischen Sinne -, die wir uns untereinander antun, die porträtiert Bergman in seinem Kammerspiel, indem er von einer vom Tod bedrängten Seele erzählt, bei deren Anblick Schwestern beginnen, über ihr zurückliegendes Leben nachzudenken, an all die Enttäuschungen, die ihr Sehnen nach sich zog. Eine Schwester, die sich nach familiärer Geborgenheit sehnt, diese aber weder in ihrer Ehe noch in ihrer Affäre findet, welche ihr die Narben und entstandene Hässlichkeit ihrer Seele offen in ihr Gesicht zeichnet. Und die andere Schwester, die einsehen musste, dass das Leben eine große Lüge ist, denn etwas wie Liebe und Wärme gibt es nicht. Da ist nur Hass und Selbstverachtung. Und diese verletzten Seelen lässt Bergman in seinem Film freien Lauf, der Schmerz bricht aus.

Ein pessimistischer Film, so könnte man meinen, denn die eingesperrte Seele in uns macht auch uns selbst zu unseren eigenen Gefangenen: wir können selbst nicht mehr das geben, was wir selbst doch eigentlich empfangen wollen. Wir werden blind, schlagen um uns und fügen anderen Schmerz zu, den wir selbst erleiden.

... das ist allerdings noch nicht alles, denn da gibt es noch das Hausmädchen Anna, das Bergman so in Szene setzt, sodass sie für mich zur Schönsten seines Gesamtwerks wird. Anna verkörpert, wie ihre gleichnamige Schutzheilige, das Mütterliche, das Nährende, Geborgenheit, Wärme, wofür Bergman eine Schauspielerin wählte, die durch und durch Weichheit verkörpert und stets sehr unauffällig im Hintergrund bleibt, übersehen, nur auf ihren Dienst reduziert und auch schonmal herumgeschubst. Mit dieser Figur - eine fromme Frau, die ihr eigenes Kind verloren hat - zeichnet Bergman das Porträt einer idealen Mutterliebe, die der Seele jene Nahrung gibt, die sie so sehr bedarf und die Agnes in ihrem eigenen Tagebuch festhielt: "Mir ist das Schönste zuteilgeworden, was ein Mensch in diesem Leben erfahren kann. Es hat viele Namen: Zusammengehörigkeit, Gemeinschaft, menschliche Wärme, Vertrauen. Ich glaube es ist das, was man Gnade nennt." Es ist Anna, nach der Agnes im Ringen mit ihren Schmerzen schreit, es ist Anna, die zu ihr geht und bei ihr bleibt, die Agnes wie ein Kind auf ihre Brust bettet und ihr Linderung verschafft. - Es ist auch Anna, die bei der toten Agnes bleibt, wo sich ihre Schwestern aus mangelnder Liebe, Ekel und Furcht abgewendet haben, da bleibt Anna, bettet Agnes in ihren Schoß, deren toter Körper sich suchend an sie zu schmiegen scheint. Es ist Anna, die Agnes durch ihre längste Nacht begleitet, bis zur Mitte, dorthin, wie es wieder Tag wird und die Nacht weichen muss. In dieser Szene spricht Geborgenheit und tiefste Liebe, die die Seele durch die dunkelste Zeit der leblosen Nacht geleitet und über den tiefsten Abgrund trägt, nie einsam, beschützend und wachend: gemeinsam. Und die Wärme dieser Szene lässt Bergman am Ende in Agnes' Erinnerung aufblühen und verbeugt sich im selben Zug gleichzeitig zutiefst vor dem Leben, das der Seele all ihr Leid angetan hat, die jedoch nicht so wunderschön funktionieren würde, hätte Bergman Anna mit der toten Agnes im Schoß nicht dieses Denkmal gesetzt.

"Alle Schmerzen waren verschwunden. Die mir liebsten Menschen waren um mich. Ich konnte hören wie sie leise sprachen und lachten. Ich spürte die Gegenwart ihrer Körper und die Wärme ihrer Hände. Ich möchte diesen Augenblick für immer festhalten, denn das ist das Glück. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen. In diesen wenigen Minuten habe ich das größte Glück gefunden. Und ich empfinde eine große Dankbarkeit gegenüber meinem so reichen Leben." - Schreie und Flüstern -

Hermann Hesse geht d'accord:

Doch da waren auch die Freuden jener Tage,
Die voller Licht und schöner Träume sind,
Wo Klage nicht mehr ist und nicht mehr Plage,
Und überall der Quell der Gaben rinnt.
Wo Liebe dem, der noch im Erdenkleid gebunden,
Die Seligkeit des Losgelösten schenkt,
Wo sich der Mensch der Menschenpein entwunden
Als Auserwählter hoher Geister denkt.

Mir ward gezeigt das Schlechte und das Gute,
Mir ward gezeigt die Fülle meiner Mängel.
Mir ward gezeigt die Wunde draus ich blute,
Mir ward gezeigt die Helfertat der Engel.
Und als ich so mein künftig Leben schaute,
Da hört ein Wesen ich die Frage tun,
Ob ich dies zu leben mich getraute,
Denn der Entscheidung Stunde schlüge nun.

Und ich ermaß noch einmal alles Schlimme
— »Dies ist das Leben, das ich leben will!« —
Gab ich zur Antwort mit entschloßner Stimme.
So wars als ich ins neue Leben trat
Und nahm auf mich mein neues Schicksal still.
So ward ich geboren in diese Welt.
Ich klage nicht, wenns oft mir nicht gefällt,
Denn ungeboren hab ich es bejaht


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