Akte X ist Kult. Das sage ich nicht gerne, denn Kult ist ein gruseliges Marketingwort, mit dem oft genug Sachen verkauft werden, die entweder extrem erfolgreich sind, oder keine alte Sau interessieren. Alles ist Kult, oft genug schon gleich nach der Veröffentlichung. Instant-Kult-Hit! Kult-Serie, Kult-Autor, Kult, Kult Kult.
Was natürlich Blödsinn ist, denn nur weil sich jetzt massenweise Leute in den neuesten Blockbuster schleppen, bedeutet dies nicht, dass man in zwei Jahren noch ein Wort über den Film verlieren wird. Und nicht jeder abstruse Exploitationfilm aus den 60ern, den schon damals niemand sehen wollte, ist gleich Kult, wenn man ihn versucht heute verzweifelt auf DVD an den Mann zu bringen.
Denn das schöne an echtem Kult ist, dass er schlecht steuerbar ist und auch heutzutage immer noch “von unten” kommt. Fans müssen einen Kult erschaffen und über Jahre aufrecht erhalten. Die Blues Brothers sind deswegen legendär, während die auf Kult getrimmten Men in black zurecht wieder von der Bildfläche veschwanden. The Rocky Horror Picture Show ist Kult, weil sich Leute dafür begeistert haben und den im ersten Einsatz gefloppten Film, dann doch zum Dauerbrenner der Nachtvorstellungen machten. Die deutsche Fassung von Die Zwei ist Kult, weil auch nach 30 Jahren noch Leute die absurden Sprüche zitieren können.
Und Akte X ist Kult, weil es Anfang der 90er endlich wieder frischen Wind ins Fernsehen brachte, das in Gerichtsserien und kuscheligen Sitcoms zu ersticken drohte. In den 60er und 70er Jahren hatte das Phantastische mit Twilight Zone, Outer Limits oder Kolchack – The Night Stalker seinen festen Platz im Fernsehen. Da gab es Mumien, Monstren, Mutationen. Doch nach der Politisierung des Kinos und Fernsehens ab Mitte der 70er Jahre waren realistischere Themen angesagt. In Deutschland regierte der Neue Deutsche Film – eine Schreckensherrschaft, von der sich unsere Filmindustrie bis heute nicht ganz erholt hat – und im TV durfte man schon froh sein, wenn bei Henry Slesar erzählt mal ein bißchen Thrill und Grusel in den Alltag schwappte.
Dem ambitionierten Revival der Twilight Zone, das Mitte der 80er auch bei uns lief, war leider kein großer Erfolg beschieden. Nach knapp zwei Staffeln warf man die Produzenten heraus und ließ noch ein paar weitere Folgen von Lohnschreiber (und späterem Babylon 5-Macher) J. Michael Straczynski in den Sand setzen, die weder formal noch inhaltlich dem Niveau der Serie angemessen waren. Danach kam erstmal eine ganze Weile nichts. Bill Cosby und ALF und L.A.Law dominierten das Programm. Hierzulande sorgte Liebling Kreuzberg für behäbigen Rechtsanwaltsspaß.
Nach langer Dürrezeit für das Genre des Phantastischen startete entgegen aller Erwartungen dann 1993 die vom ehemaligen Surfer Chris Carter erdachte Serie The X-Files, die bei uns dann kurz darauf als Akte X zu sehen war. Vielleicht hatte der Achtungserfolg von Twin Peaks das Vertrauen in Mystery etwas bestärkt und geholfen, dass Akte X grünes Licht bekam. Beim Produzenten Fox glaubte man wohl selbst nicht so recht an einen Hit und auch die Macher waren damals wohl froh, überhaupt eine ganze Staffel produzieren zu dürfen. Sie waren mit Twilight Zone, Alfred Hitchcock presents und Kolchack aufgewachsen und genau in deren Geist ermittelten auch Mulder und Scully als FBI-Agenten, für die “etwas anderen Fälle”. Dazu packte Carter eine gehörige Portion Paranoia und Misstrauen gegenüber einer Regierung, der Leute seiner Generation spätestens seit Watergate und der Iran-Contra-Affäre nicht mehr über den Weg trauten. Twilight Zone meets Die Unbestechlichen.
Wurden die ersten paar Folgen noch mit höflichem Interesse zur Kenntnis genommen oder kritisch beäugt, entwickelte sich die Serie schon bald zum Einschaltquoten-Renner. Noch vor Ende der ersten Staffel wurde die Zweite abgesegnet und erste Fans hatten sich als X-Philes zusammengeschlossen. Akte X machte vieles anders und richtig. Die Serie fand genau zur Zeit der digitalen Revolution statt und war stets bemüht, aktuelle Technik und Entwicklungen widerzuspiegeln. Heute selbstverständlich, war es Mitte der 90er noch ein Novum, dass Mulder und Scully stets ihre Handys dabei hatten oder das Internet nutzten. Und auch die Fans gingen diesen Weg mit. Die X-Files waren eine der ersten Serien, deren Fandom sich hauptsächlich in der Netzwelt austauschte und diskutierte. Das zeigt auch, dass die Serie eben besonders jene Zuschauer anzog, die Neuem gegenüber offen waren, die zu den Early Adoptern gehörten, die smart genug waren, die vielschichte Erzählweise, die komplexe Welt und Anspielungsdichte zu verstehen und zu schätzen.
Denn Akte X war nicht nur wegweisend in seiner Instrumentalisierung der Alltagsparanoia, sie brachte auch eine bisher ungewohnte Form von Spaß ins US-Fernsehen: Ironie und schwarzen Humor. Akte X war nie eine Comedy-Show, produzierte aber dennoch extrem witzige Folgen wie die Zirkusepisode Humbug oder Clyde Bruckman’s Final Repose, in der es um einen Hellseher wider Willen ging. Besonders David Duchovny als Fox “Spooky” Mulder durfte mit seinen extrem trockenen, sarkastischen Humor mehr als einmal die düstere Grundstimmung der Serie auflockern. Gillian Anderson bot als Scully genau den richtigen Gegenpart. Nachdenklicher, skeptischer aber dennoch immer mit großem Verständnis für ihren FBI-Partner. Dazu kamen menschliche Vorlieben, die man zuvor auch eher selten bei Serienhelden gefunden hatte, z.B. Mulders Vorliebe für Pornos und Sexhotlines, die immer mal wieder angedeutet wurde.
Ein weiteres Novum war die Beziehung zwischen den Hauptfiguren, die eben nicht romantischer Natur war. Die beliebte Sitcom Situation der “unterschiedlichen Liebenden, die zueinander finden müssen”, wie man sie auch bei Wer ist hier der Boss oder Die Nanny immer wieder benutzte, unterlief Akte X genüsslich. Auch und gerade, weil die Macher wussten, dass es einige Fans gab, die immer wieder darauf hofften, dass Mulder und Scully doch noch ein Paar würden, blieben diese in der Serie immer nur gute Freunde und Arbeitskollegen.
Dazu kam, dass Akte X sich nach langer Zeit mal wieder traute, wirklich gruselige Episoden abzuliefern. Ob Wurmwesen, Werwölfe, Blutsauger, Kakerlaken, Kannibalen, Viren, Geister, Untote, Aliens oder anderweitig abseitig veranlagte Kreaturen – Akte X traute sich creepy zu sein und seinen Zuschauern wirklich Angst zu machen. Man servierte genau die richtige Mischung aus Einzelfolgen und den sogenannten Myth-Arc-Episoden, die die Einzelheiten der “Großen Verschwörung” weiter auffächerten. In den besten Staffeln schaffte es die Serie immer einen zu überraschen, weil sie unglaublich reichhaltig war. Humor, Spannung, Regierungskritik, Thriller, Albernheiten. Akte X appellierte an die Agnostiker und Skeptiker, genauso wie an diejenigen, die glaubten, dass es doch “irgendwie mehr geben muss”. Diejenigen, die nicht unbedingt einen Gott brauchten, sich aber dennoch über den Schneemensch, Nessi oder ein Ufo freuen würden. Und all diejenigen, die das allgemeine Gefühl teilten, dass hinter all dem Elend in der Welt letztlich doch ein großer böser Plan steckte und eben kein dummer Zufall.
Kein Wunder, dass in jeder dritten Studentenbude damals ein “I want to believe”-Poster hing, X-Files-T-shirts, Pins und Anstecker zum guten Ton gehörten und sich Remixe des unheimlichen Titelsongs von Mark Snow wochenlang in den Charts hielten. Die Catchphrases “Trust No One”, “I want to believe” und “The Truth is out there” sind wahre Meisterstücke des Sloganeering.
Der Erfolg der X-Files bereitete erst den Weg für das Revival des Fantastischen im Fernsehen: Buffy, Xena, Charmed, Millenium, Torchwood, Supernatural, jericho, Primeval, die neuen Twilight Zone und Outer Limits Serien – sie alle verdanken ihre Existenz zum Teil auch dem Erfolg der X-Akten. Die ungewohnte, für damalige Verhältnisse sehr filmische, Optik, der grau-griselige Look, der zum Teil auch einfach der Tatsache geschuldet war, dass man die X-Files aus Kostengründen in Kanada drehte, der ungewöhnliche Fokus auf sehr dunkle Szenen, die oftmals nur von den markanten Taschenlampenstrahlen der Helden erleuchtet wurden – das alles war stilbildend und beinflusst bis heute viele Serien von 24 bis Heroes.
Die X-Files waren neben den Simpsons auch eine der ersten wirklich postmodernen Serien, die bewusst auf einen ganzen Kosmos von Popkultur anspielten, diesen zitierten und ihre Fans belohnten. Wie bei der gelben Familie aus Springfield (bei denen beide Agenten auch mal einen Gastauftritt absolvierten) lohnte es auch bei Akte X eine Folge mehrfach zu sehen und kleine Gags und Referenzen zu erkennen und zu entschlüsseln.
Auch deswegen haben sie sich den Begriff Kult tatsächlich verdient. Während viele Erfolgsserien vielleicht mit nostalgischer Verklärung gesehen werden, wirkt der Einfluß von Akte X bis heute nach. Situationen, gewisse Wortwechsel und Sprüche der Serie sind Teil der Alltagskultur und – was man nicht vergessen darf – die alten Folgen sind auch heute noch sehr unterhaltsam und haben die Zeit gut überstanden.
Natürlich gab es auch Ermüdungserscheinungen. Die Produktion der letzten Staffeln wurde nach L.A. verlegt, zum Schluß trat Duchovny nur nach als Gaststar auf und man verhedderte sich sich mehr als einmal im Gewirr des nicht immer sauber konstruierten Mytharcs. Die Staffeln 7-9 gehören insgesamt wohl eher nicht zu den Highlights der Serie, wie selbst Fans zugeben. Und trotzdem: Akte X wird immer einen besondern Platz in meinem Herzen einnehmen, weil es sich traute, neue Wege zu beschreiten und Figuren erschuf, die einen über neun Jahre wie gute Freunde begleitet haben. Freunde, denen man auch kleine Schwächen nachsieht.
Wenn ich mir den den neuen Film Akte X-Jenseits der Wahrheit jetzt anschauen werde, dann erwarte ich nichts Weltbewegendes. Ich weiß auch nicht, ob der Film wirklich gut sein wird, denn schon der erste hat im Kino nur bedingt funktioniert. Aber ich freue mich auf ein Wiedersehen mit Mulder und Scully, mit Mark Snows Musik und der Wahrheit, die immer noch irgendwo da draussen sein muss…
Denn: Ich will glauben. Und wenn es nur an eine Serie ist.
PS: Nur an Scully mit langen Haaren kann ich mich gewöhnen.
(Und auch wenn ich den Film eh im Original schauen werde, hasse ich Fox dafür, dass sie zu geizig waren, Mulder seine Stammstimme Benjamin Völz zu spendieren – sowas macht man einfach nicht!)