Sie schwingt ihr Schwert mit solcher Wucht und Präzision, dass die Gegner vor Angst im Wüstenboden verschwinden würden, wenn sie wüssten, was ihnen guttut. Das wissen sie allerdings nicht im neuen Film von Anime-Meister Mamoru Hosoda, der nach seiner wehrhaften Heldin mit der rötlich-pinken Mähne benannt ist: Scarlet.
Der neue Fantasy-Film des Regisseurs von Das Mädchen, das durch die Zeit sprang und Mirai - Das Mädchen aus der Zukunft beginnt wie so viele Genre-Genossen, um dann ein fast schon utopisches Wendemanöver durchzuführen. Das kann man naiv nennen, aber die fantastischen Bildwelten, scheppernden Action-Szenen und ein süßer Krankenpfleger aus der Zukunft trösten darüber hinweg.
Scarlet verwandelt Hamlet in ein Fantasy-Abenteuer
Besagte Kriegerprinzessin lebt im Elsinore (= Helsingør) des 16. Jahrhunderts und wird Zeugin, wie ihr Vater der Verschwörung seines Bruders Claudius und ihrer Mutter Gertrude zum Opfer fällt. Wer bei diesen Lokalitäten und Namen stutzig wird, liegt richtig und falsch. Ja, in Scarlet werden Motive von William Shakespeares Tragödie Hamlet verarbeitet, aber beinahe bis zur Unkenntlichkeit. Auf "Sein oder Nichtsein" im Anime-Stil sollte man nicht warten.
Auch Scarlet ist eine Rachegeschichte, nur findet sie nicht am dänischen Hof statt, sondern in der sogenannten Otherworld. Die Königstochter wird nämlich von ihrem Onkel vergiftet. Sie landet in der Zwischenwelt, entkommt gerade so den Griffeln des endgültigen Todes und will – da es ihr im Leben nicht mehr möglich ist – ihren Durst nach Vergeltung hier stillen. Irgendwann stirbt schließlich auch Claudius und landet in der Otherworld.
Hier ist der Trailer für Scarlet:
Diese Otherworld ist ein Augenschmaus, mit einem Himmel, der sich in Wellen verliert wie die Weite des Meeres. Nur gelegentlich streift ein gewaltiger, von Waffen durchbohrter Drache übers Firmament und speit Blitze. Von oben gesehen ähnelt die Wüste der sogenannten "Lichtenberg-Figur", also den an Wurzelgeflechte oder Adern erinnernden Narben, die elektrische Ladungen am Menschen hinterlassen können (auch wenn sie nicht von zwischenweltlichen Flugechsen ausgesandt werden).
Der Drache sendet die Blitze, aber die Narben schaffen sich die Menschen schon selber. Denn nach wenigen Schritten in der Zwischenwelt greift auch Scarlet wieder zur Waffe und frönt ihrem gewalttätigen Handwerk.
Erst eine Zufallsbegegnung im Nirgendwo zwischen Leben und Tod bringt etwas Abwechslung in ihr hasserfülltes Trachten. Sie stößt auf den friedfertigen Krankenpfleger Hijiri aus unserer Gegenwart, der ebenfalls in der Otherworld gelandet ist. Und so bahnt sich ein wunderliches Buddy-Movie zwischen mittelalterlicher Kriegerin und modernem Heiler an, das weitere Shakespeare-Gestalten, eine Zeit und Raum überspannende J-Pop-Tanzszene und die schönste Himmelstreppe seit Irrtum im Jenseits bereithält.
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Scarlet überrascht mit dem Gauben ans Gute
Krankenpfleger Hijiri dient als launiger Sidekick, er stößt aber in erster Linie eine Perspektivverschiebung im Film an, die ihn wesentlich origineller wirken lässt, als zunächst vermutet. Scarlet beginnt als klassisches Fantasy-Abenteuer mit Mittelalter-Einschlag und Gender-Switch in der Hamlet-Geschichte, die ja beim Barden schon von den Irrwegen der Rache erzählte. In der Zwischenwelt erhält die Story einen versöhnlichen Drall.
Die zunächst feindlich gesinnte Otherworld stellt sich als Heim von fürsorglichen kleinen Communitys heraus. Selbst die Helfershelfer von Claudius, die Scarlet noch im Tode um die Ecke bringen sollen, werden von eindimensionalen in zumindest zweidimensionale Persönlichkeiten verwandelt. Katalysator für diese Änderung ist Hijiri. Der Krankenpfleger will lieber heilen, statt zu töten, und baut damit beiläufig Brücken, die Scarlet sonst nie beschreiten würde.
Hier kommt der Vorwurf der Naivität ins Spiel, der diesem Film sicher gemacht werden wird. Im Vergleich zu früheren Filmen von Mamoru Hosoda wirkt er tatsächlich emotional reduziert und "einfach", sowohl in der Charakterisierung als auch der Erzählweise und Message. Andererseits kann man die Konsequenz, mit der der Autor und Regisseur seiner Sehnsucht nach Versöhnung Ausdruck verleiht, auch respektieren. Scarlet ist schließlich kein Pamphlet, sondern immer noch ein mitreißender Fantasy-Film mit reichlich Spektakel, einer couragierten und facettenreichen Heldin und einem würdigen Finale, das die moralischen Fallstricke der Vergeltung in einprägsame Bilder taucht.
Wir haben Scarlet beim diesjährigen Filmfestival in Venedig gesehen, wo er außerhalb der Konkurrenz seine Weltpremiere gefeiert hat. Am 29. Januar 2026 kommt der Film in die deutschen Kinos.