Zu jedem Festivalbesuch gehört eine genaue Recherche und Planung der persönlichen Programmauswahl. Trotz vieler prägender Erlebnisse ist man auch bei der Berlinale, dem Achtung Berlin Festival oder dem Around the World in 14 Films nicht davor gewahrt, große Enttäuschungen mitzunehmen. In den letzte fünf Tagen hatte ich dank Moviepilot nun die Möglichkeit, mich während des filmPOLSKA-Festivals intensiv mit der polnischen Filmlandschaft auseinanderzusetzen. In mehreren Sektionen konnte man unter 100 Beiträgen zwischen Spiel-, Dokumentar-, Experimental- und Kurzfilmen auswählen. Das Festival findet in verschiedenen unabhängigen Kinos in Berlin, einzelne Veranstaltungen sogar in Potsdam und Frankfurt (Oder) statt. Dies bietet die Möglichkeit, viele liebevoll gestaltete Lichtspielhäuser wie das Kino Krokodil oder das neu eröffnete Wolf Kino zu entdecken. Jedoch sind die Spielzeiten leider so programmiert, dass es kaum möglich ist, festivalüblich mehrere Filme hintereinander in verschiedenen Kinos zu sehen. Um die Programmvielfalt zu verdeutlichen, stelle ich nun einige Höhepunkte meiner ausgewählten Filme dar.
Zwischen Dokumentar- und Spielfilm
Die Eröffnung des 12. filmPOLSKA-Festivals am 3. Mai fiel gleichzeitig auf den internationalen Tag der Pressefreiheit und dem polnischen Nationalfeiertag. In den Grußworten der Veranstaltenden wurde passenderweise auch ausdrücklich auf die Bedeutsamkeit des interkulturellen filmischen Austausches in Europa zu Zeiten des Populismus hingewiesen. Der eröffnende Dokumentarfilm „You Have No Idea How Much I Love You“ des Regisseurs Paweł Loziński beschreitet jedoch intime Wege: ohne Drehbuch und professionelle Schauspieler wird anhand persönlicher Erfahrungen ein Mutter-Tochter-Konflikt in fünf Therapiesitzungen aufgearbeitet. Der Film ruft zu konfliktlösender Empathie im gegenseitigen Miteinander auf. Durch den Wechsel von gnadenlosen Close-Ups zwischen den drei Teilnehmenden wird die Intensität immer weiter gesteigert.
Bei dem Sundance-Preisträger „All These Sleepless Nights“ verschwimmen ebenfalls die Grenzen zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Die Kamera tanzt wie entfesselt um die Protagonisten, die ziellos zwischen jugendlichem Leichtsinn und philosophischen Ernst durch das Partyleben Warschaus treiben. Der Film atmet die Ästhetik eines Terrence Malick. Es entsteht das Porträt zielloser, junger Erwachsener, die genauso auch in Berlin, Paris oder London leben könnten. Man kann nur hoffen, dass dieses Highlight des polnischen Films einen deutschen Verleih findet. In den Großstädten würde er auf jeden Fall sein Publikum finden.
Die Macher des Dokumentarfilms „Kommunion“ müssen sich darum keine Sorgen machen: Gleichzeitig zum Festival startet bundesweit im Kino, die traurig, zärtliche Geschichte eines Mädchens, dass ihrem autistischen Bruder trotz aller familiärer Widrigkeiten eine feierliche Kommunion ermöglichen will. Wer das Festival also nicht besuchen konnte, hat hier die Möglichkeit, einen guten Eindruck des Programms zu bekommen.
Morbide Vergangenheitsbewältigung
Die Geschichte einer tschechischen Massenmörderin „I, Olga Hepnarova“ eröffnete bereits 2016 die Panorama-Sektion der Berlinale und ist wohl der bedrückendste Film der diesjährigen filmPOLSKA-Ausgabe. Aufgrund der kühlen Schwarzweißbilder, einer fehlenden dramatischen Zuspitzung und der fragmentarischen Erzählweise ist der Film nur schwer zugänglich. Das Drehbuch vermeidet außerdem eine klare Haltung zu Olga und ihrer Tat zu beziehen oder gar ihre Motivation restlos zu ergründen. Noch lange nach dem Abspann haben mich Fragen zum Leben Olgas, auch dank einer herausragenden Performance von der jungen, in Warschau geborenen Schauspielerin Michalina Olszańska, beschäftigt.
Als nächstes stand der hochgelobte, vom Filmfestival Cottbus vorgestellte „The Last Family“ im komplett ausverkauften fsk Kino in Kreuzberg auf dem Programm. Anfangs war ich erleichtert, dass der Film mit seinen trocken schwarzhumorigen Untertönen etwas Auflockerung in meine bisher leicht düstere Programmauswahl bringt. Schnell wird jedoch klar, dass es sich hier nicht um eine klassische Künstlerbiopic des bedeutenden Malers Zdzisław Beksiński handelt. Mit glaubwürdiger Maskenarbeit, wohlüberlegten zeitgenössischen Referenzen und einmal mehr großartigen schauspielerischen Leistungen wird eine dramatische Familiengeschichte über mehrere Jahrzehnte als Kammerspiel in den Plattenbauten Warschaus inszeniert. Am Ende wird jedem Zuschauer bewusst, dass die morbide Kunst Beksiński sich auch in seiner Familie manifestiert hat. Ein weiteres Highlight des Festivals!
Vielfältige Sonderreihen
Die Sektion „Kamerakunst“ widmet sein Programm dieses Jahr den Dokumentar- und Spielfilmen von Kameramann und Regisseur Marcin Koszałka. Zu dem Screening seines Spielfilm-Regiedebüts „Die Rote Spinne“ war er selbst zu Gast und bot dem Publikum ein tieferes Verständnis seiner Arbeit als Künstler. In seinem Serienkillerporträt verweigert er sich üblichen Genrekonventionen und setzt vielmehr auf Atmosphäre und Ästhetik. Man merkt dem Regisseur seine Berufung zum Kameramann definitiv an: Jede Einstellung bzw. Bewegung fasziniert und vermittelt dem Zuschauer mehr als die knappen Dialoge.
In der diesjährigen Retrospektive des Festivals wurden Filme gezeigt, die auf den Werken des weltbekannten polnischen Autoren Joseph Conrad (1857-1924) basieren. Für nostalgische Filmfans ist es sicherlich ein Geschenk Meisterwerke wie „Apocalypse Now“ oder „The Duelllist“ endlich wieder auf der großen Leinwand zu bestaunen. Mit dem historischen polnischen Kino haben diese Filme allerdings nicht wirklich etwas zu tun. Interessierte konnten sich hier aber der Hommage an den polnischen Regiegroßmeister Andrzej Wajda (1926-2016) zu wenden. Ich habe es zeitlich leider nicht geschafft, einen der Filme zu sehen, freue mich aber, zumindest seine bekannteren Werke in Zukunft nachzuholen.
Das Festival geht am 10. Mai bereits zu Ende, doch für alle Berliner bietet sich nochmal die Möglichkeit, den Gewinnerfilm des Wettbewerbs am Mittwochabend, um 21.45 Uhr im Babylon zu sehen. Zum jetzigen Zeitpunkt steht noch nicht fest, welcher Beitrag der sieben nominierten Filme des polnischen Nachwuchses das Rennen gemacht hat. Mein Fazit des Festivals fällt jedenfalls einseitig positiv aus: Gern hätte ich auch über einen missglückten Film berichtet, doch anders als bei meinen bisherigen Festivalbesuchen hat mich wirklich jeder im Vorfeld ausgewählte Beitrag auf seine Art und Weise überzeugt. Ich bin schon auf das nächste filmPOLSKA-Festival gespannt!