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Camerimage 2014

26.11.2014 - 22:00 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Festivalkrimskrams
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Eine Liebeserklärung an das Filmfestival für Kameramänner und Kamerafrauen, sowie alle die es werden wollen schlechthin: Camerimage in Bydgoszcz, Polen. Es ist die 22. Ausgabe, mein zehntes Mal, und Zeit für eine Bilanz, um meiner schleichenden Entfremdung auf den Grund zu gehen.

Dieses Festival ist etwas besonderes. Kein anderes hat eine derart familiäre Atmosphäre, was vielleicht auch daran liegt, dass seit jeher Filmstudenten, die sich üblicherweise kein Hotelzimmer leisten können, bei Gastfamilien unterkommen, um dort mit der polnischen Gastfreundschaft konfrontiert zu werden, deren Herzlichkeit eben so rührend, wie reichhaltig an Kalorien ist. So erlebte ich selbst vor mittlerweile 15 Jahren mein erstes Camerimage, damals noch in Toruń, wie auch ein weiteres Mal in Łódź, danach nur noch in Hotels, in denen es fast immer Schwierigkeiten mit der Internetverbindung gab - was sich leider auch aktuell in Bydgoszcz fortsetzt. Seitdem schlafe ich dort zwar immer noch nicht viel mehr, aber verbringe deutlich mehr Zeit im Kino als auf den legendären Partys, die auch schon mal mit gefühlt 50 Studenten auf dem Hotelzimmer von Chris Doyle enden können. Dessen Schnapsnase begegnet man dort alle paar Jahre, und irgendwann hat man sich an seine Punk-Attitüde gewöhnt und macht einen Bogen um ihn. Am anderen Ende des Spektrums begegnet man vollendeten Gentlemen wie Billy Williams, und seit ein paar Jahren auch Schnitt-Legenden wie Thelma Schoonmaker oder Pietro Scalia.

Was hat sich über die Jahre verändert?

Beginnt vielleicht hier meine Kritik, weil es mal mehr Schnittseminare dort gab? Nein, die Kritik muss bei wesentlichen Dingen ansetzen, sagt mir mein Bauchgefühl, also beim Bigos ! Das polnische Nationalgericht, der großartigste Eintopf (einmal mit allem) war immer fester Bestandteil des Fesivals, den man sich an der Theke zwischen den Vorstellungen in sich reinschaufeln konnte - oft die einzige warme Mahlzeit, die man am ganzen Tag zu sich nahm, und obendrein ein Geheimrezept gegen jeden noch so bösen Kater - dieses Jahr fehlte es im Angebot. Eine Unverschämtheit! Terminlich liegt das Festival im sattesten Herbstgrau, da kommt es auf jedes Grad und jeden Löffel Wärme an, wenn man in Pfützen oder wahlweise Schneewehen versinkt - je nach Jahrgang. Stattdessen gibt es jetzt Camerimage-Wein. Ein schlechter Scherz, auch wenn ich ihn nicht probiert habe. Sinnvoller sind da schon die kuscheligen Mützen, die man sich unten am Infostand kaufen kann.

Unbestreitbar ist das Festival über die Jahre enorm gewachsen und dabei seinen Platzansprüchen leider mindestens einen Schritt voraus. Immer neue Wettbewerbe kommen hinzu, Dokumentarfilme, Musikvideos, 3D, Debütfilme vom Regie- und Kameranachwuchs, Panorama, etc. im nächsten Jahr werden es wohl erstmalig mehr als 400 Filme sein, die das Festival zeigt, in einer Woche, neben zahlreichen Seminaren , Workshops, Pressekonferenzen, Ausstellungen, Konzerten und Partys. Auswählen musste man schon immer, nur wird es einem jedes Jahr schwieriger gemach, und irgendwann gewinnt man den Eindruck, dass es längst mehr um Masse als Klasse geht, um möglicherweise diversen Entwürfen von Frank Gehry  für ein leicht größenwahnsinniges Festivalcenter neue Nahrung zu geben.

Den schleichenden Wandel spürte man schon immer auf der Sponsorenseite, zwar sind noch immer ARRI  und Panavision unter den Hauptsponsoren, doch der dritte im Bunde war stets Kodak, die dieses Jahr leider nur noch mit einem Seminar vertreten waren und damit leider nicht mehr ansatzweise so prominent wie einst. Das macht traurig, zwischen all den Hawk-Objektiven und Lee-Filtern jetzt keine Filmdosen mehr zu haben. Dafür drängen sich immer mehr andere Hersteller hinzu, neben SONY beispielsweise Panasonic, neu als großer Player ist jetzt Canon im Foyer der Oper angekommen. Doch fehlen einem die Filmspulen, die einem früher zwischen den Vorstellungen fast über die Füße gerollt wurden, heute wird fast alles als DCP gezeigt und mehr als das satte Schwarz vermisst man nur immer mal wieder das richtige Objektiv, um statt den Filmvorführer, die weniger üblichen Standardformate im richtigen Verhältnis vorzuführen. Nur ganze 2x kam ich dieses Jahr im Rahmen der Powell/Pressburger-Retrospektive noch in den Genuß einer echten Filmkopie. Es hat keine 10 Jahre gedauert, 100 Jahre Filmgeschichte nahezu vollständig zu verdrängen, und es mutet wie ein weiterer Fehler in einer langen Reihe bereits begangener an.

Dazu gehört auch, dass ein beträchtlicher Teil des Programms ins benachbarte Muliplex ausgelagert wurde, was vor allem aufgrund der Nebeneffekte (Popcorn und Soundbrei, der aus dem Nolanzimmer rübersuppt) traurig stimmt. Ärgerlich ist schon der Reservierungsprozess, den man via Internet im Vorfeld erledigen kann - stets mit dem Ergebnis, das nahezu jede Vorstellung in Windeseile ausgebucht ist. Die Tickets kann man sich dann zwar abholen und alle nicht abgeholten sind eine Viertelstunde vor Vorstellungsbeginn wieder für alle frei, nur sind am Ende trotzdem viele Säle nicht einmal halbvoll. Warum? Nun, einige kriegen den Hals nicht voll und gehen in andere Filme, kommen nicht aus dem Bett, oder gehen früher auf eine Party bzw. Einkaufen, und bei einer Retrospektive am Freitagmorgen sitzen dann gerade mal 15 Leute im Saal. Das verdirbt einem manchmal fast schon die Laune, vor allem wenn man den Andrang die 15 verbliebenen Minuten vor einer Vorstellung erlebt, und in einem vormals zu 100% reservierten Saal plötzlich 40% der Sitze frei werden. Vielen Dank auch, ihr unentschlossenen Arschlöcher.

Das Kino Orzeł  hingegen bleibt für die intimeren Momente reserviert und ist auch deshalb einen Besuch wert, weil man dort doch noch Bigos bekommt, wenn auch nur in der Mikrowelle aufgewärmtes. Immerhin.

Was ist denn geblieben?

Die Atmosphäre. Mit diesem Publikum einen Film zu sehen, bereitet mir jetzt noch genauso eine Gänsehaut, wie vor 15 Jahren, als ich das erste Mal dort war. Die Stimmung ist unvergleichlich, man erlebt Szenenapplaus nach herausragenden Momenten, bei schlechten Filmen gibt es Zwischenrufe, die sie für alle erträglicher machen. Als würde man mit seinem besten Kumpels Filme gucken, nur eben hoch 10. Mit diesem Publikum kann und möchte man sich jeden Film ansehen. Als Filmliebhaber ist man unter seinesgleichen, und da spielt es keine Rolle ob man 18 oder 88 ist. Das ist die alle Raster sprengende Zielgruppe, für die man Filme macht, liebe Fördergremien. Schreibt Euch das mal hinter die Ohren.

Neben den Akkreditierten, Studenten und anderen Filmschaffenden, sind mir in diesem Jahr besonders zwei ältere einheimische Damen aufgefallen, die sich Tickets kauften, zusammen ins Kino gingen, und dabei kicherten wie 14-jährige. Wunderbar. So möchte ich auch alt werden!

Ein Loblied singen möchte ich noch unbedingt auf Michał “Lonstar ” Łuszczyński, die Seele und das Herz des Festivals, der einen täglich durch das Programm begleitet und übersetzt, was die anwesenden Ehrengäste so von sich geben. Stets unter seinem Cowboyhut hervornuschelnd, ist er die unverwechselbare Konstante, die einem so zuverlässig ein Lächeln aufs Gesicht zaubert, wie das musikalische Thema aus dem LETZTEN MOHIKANER für Gänsehaut sorgt, wenn es einem vor jedem Screening als Untermalung des Camerimage-Festival-Trailers begegnet. Die erste Minute davon habe ich dort unzählige Male gehört, und hat sich für den Rest meiner Tage untrennbar mit diesem Festival in meine Synapsen eingebrannt.

Leider ist das nicht das einzige, was sich dort festsetzt, denn danach gibt es noch die Werbung der Sponsoren zu überstehen, was in den vergangenen Jahren einige seltsame Blüten trieb. Unübertroffen sind bis heute die Spots des Zementherstellers Atlas , der sich durch das Sponsoring einiger kultureller Events verdient gemacht hat:

Dennoch blieb die Wirkung inmitten von ARRI, Kodak und SONY Werbung schlicht einzigartig. Unangenehm fielen hingegen immer wieder lieblose (und schlechte) Renderings auf, wie allen voran dieses:

Da freute man sich, als im Publikum jemand auf die Idee kam hysterisch “Watch out!!!” zu schreien, was sich zu einem der vielen running-gags des Festivals entwickelte.

Manches vom Aufgezählten kann man diesem Ausnahmefestival zu seinem Nachteil auslegen, doch noch immer ist es der Ort, an dem ich mich im Kino rundum wohl und als Filmliebhaber gut aufgehoben fühle. Safe Screening, man holt sich nix, außer Begeisterung. Und wenn man sich die Mühe macht sich aus dem Programm nur die Rosinen heraus zu picken, dann ist es am Ende immer noch ein Füllhorn traumhafter Eindrücke. Sein Bigos findet man schließlich auch woanders in der Stadt (Tipp: hier ) - bis nächstes Jahr.

Gewonnen hat dieses Jahr der russische Beitrag Leviathan von Andrei Zvyagintsev, und wenig freut mich so sehr, als dass die internationale Jury gerade diesen Ausnahmefilm auszeichnete, was ihm womöglich eben jene Argumente mit auf den Weg gibt, um in seiner Heimat unzensiert ins Kino zu kommen, was ich ihm ebenso wünsche wie im Westen. Kultur setzt sich erfolgreich über Grenzen, Propaganda und Kriegstreiberei hinweg - das ist mein Camerimage.

PS: Abschließend noch die Auflösung für jenes Rätsel, das Euch womöglich seit Beginn dieses Artikels plagt: "Camerimage" - wie spricht man das aus? Lange war ich der Auffassung, dass es in Anlehnung an die Brüder Lumière französisch angehaucht sein sollte, also “Kamärimaaahsch” - allerdings ist es doch eher die englische Variante, also “Kämerimitsch” - das war wohl der Beginn der Entzauberung, mit dem das Festival für mich schleichend seinen Charme verlor, und doch Jahr für Jahr zurückerobert.

PPS: Und noch ein Tipp, so naheliegend, dass ich erst in meinem 10. Jahr darauf gekommen bin: Man bekommt an der Garderobe eine Nummernplakette, von der man nie weiß, wo man sie sich hinstecken soll, damit man sie später wiederfindet. Man kann sie sich auch neben den Festivalpass um den Hals hängen. Ich Esel.


Halsweh

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