Eröffnungsfilme haben eine sonderbare Position bei den großen Filmfestivals. Meist laufen sie nicht im Wettbewerb um die Palmen, Bären und Löwen, sondern dienen vielmehr als Vorspeise für die kommenden zehn oder zwölf Tage. Sie sollten gut sein, aber nicht so gut, dass man satt ist, bevor die ersten 24 Festivalstunden vorübergezogen sind.
Das neuste Exemplar heißt Leave One Day. Er markiert einen wichtigen wie eigentümlichen Meilenstein in der Geschichte des Festivals. Leave One Day ist nämlich der erste Debütfilm, der in 78 (!) Festivaljahren die Filmfestspiele in Cannes eröffnet und kommt als eine kulinarische Kreuzung aus Once und Mamma Mia! daher.
Im Cannes-Eröffnungsfilm Leave One Day wird die Autobahnraststätte zur Musical-Bühne
Das Abba-Musical mit Meryl Streep liegt nahe, weil Leave One Day sich schnell als beschwingter Nostalgie-Trip mit bekannten Pop-Songs erweist. Köchin Céline (Juliette Armanet) hat in einer berühmten Kochshow den Hauptpreis gewonnen und steht kurz vor der Eröffnung ihres ersten eigenen Restaurants. Dort führt sie die Küche mit der Effizienz und Strenge, die wir aus The Bear: King of the Kitchen kennen. Doch ein Schwangerschaftstest und der herzkranke Vater zwingen sie, die Pause-Taste zu drücken. Oder ist es die Play-Taste?
Céline kehrt nach Hause zurück, allerdings nicht in ein azurblaues Filmstudio-Griechenland, sondern eine unscheinbare Autobahnraststätte auf dem französischen Land. Dort kochen und bedienen ihre Eltern die Lastwagenfahrer und dort lernte Céline einst ihr Handwerk.
Regie-Debütantin Amélie Bonnin und Kameramann David Cailley (Animalia) fangen den rauen Charme der Gegend in schnörkellosen, auf Authentizität bedachten Bildern ein. Daher also die Parallele zum Handkamera-Überraschungshit Once. Céline trifft Raphaël (Bastien Bouillon), ihren Schwarm aus Teenie-Tagen wieder, und gibt sich den Erinnerungen an ihre Jugend hin. Die Probleme, die sie aus Paris mitgebracht hat, werden dadurch allerdings nicht verdrängt.
Während man noch sehnsuchtsvoll der knusprigen Kotelett-Panade hinterherschaut, trällern Céline, ihre Familie und alten Freunde alle paar Minuten die Melodien bekannter frankophoner Hits. Darunter sind Stromaes "Alors On Danse" und K-Maros "Femme Like U". Wenn die wahren Gefühle zu köcheln beginnen, verwandelt sich die Autobahnraststätte in Leave One Day in eine Musical-Bühne.
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Die Stärke von Leave One Day liegt in der fehlenden Perfektion
Komplexe Tanz-Choreografien sucht man vergebens, das würde dem Konzept des Jukebox-Musicals zuwiderlaufen. Die Stärke des Films ist gerade die fehlende Perfektion. Denn die Musik wird in Leave One Day als Ausdruck einer Gefühlswelt genutzt, die im Trott des längst durchchoreografierten Alltags – ob in der piekfeinen Pariser Küche oder der etwas ranzigen Autobahnraststätte – verschüttet wurde.
Die Musik bringt verborgene Träume und Sehnsüchte zum Vorschein. Wenn also die zarte Stimme von Célines Mutter (Dominique Blanc) bricht, während sie von der Sehnsucht nach einem Urlaub mit ihrem schwerkranken Mann singt, dann verwandelt der Film das augenscheinlich künstliche Konzept eines Musicals in einen unmittelbaren Stich ins Herz.
Diese Unmittelbarkeit findet der Film allerdings nicht immer. Gerade in der ersten Hälfte plätschern die Musiknummern vor sich hin und entwickeln selten Spannungsbögen. Gleichzeitig imponieren die Dialoge – wie der gesamte Film – mit ihrem schmucklosen Understatement, doch es fehlt an Zuspitzung, es fehlt an Verve. Bisweilen ist Leave One Day deshalb anzumerken, dass Regisseurin Amélie Bonnin ihren gleichnamigen, mit einem César prämierten Kurzfilm auf Spielfilmlänge gebracht hat.
Der Film steht und fällt damit, dass das Publikum die Typen und Charakterköpfe des Films liebenswert findet. Im Großen und Ganzen wird dieses Vertrauen gerechtfertigt. Und doch bleibt nach jeder Musiknummer der Wunsch nach mehr – weshalb mit Leave One Day vermutlich der perfekte Eröffnungsfilm der Filmfestspiele in Cannes gewählt wurde.
Wir haben Leave One Day bei den Filmfestspielen von Cannes gesehen. Der Film hat noch keinen deutschen Kinostart.