Stellen wir uns für eine schreckenerregende Sekunde vor, Somebody to Love (S03E10) wäre die letzte Episode von Fargo. Dann würde uns Noah Hawley in Ungewissheit zurücklassen, nicht nur über das Ende einer einzelnen Staffel. Vor uns läge eine Serie ohne Schlussstrich, ohne "all was well" in Minnesota. Wird Glorias Vision von Rikers und Snickers wahr werden, also Varga hinter Gittern landen und sie über die bernsteinfarbenen Kornwellen ihrer Heimat blicken? Oder wird der von Varga beschworene Mann den Verhörraum betreten, der mächtiger ist als sie beide? Wird Varga sich auch diesmal in Luft auflösen? Gewinnt die Wahrheit - das Gute - oder die Lüge - das Böse? Als unabgeschlossener Handlungsstrang mag die Varga-Story den Zuschauer dieser 3. Staffel von Fargo frustriert, gar unbefriedigt zurücklassen. In gewisser Weise bietet diese 10. Folge aber das ideale Ende für eine Staffel, die vor allem eine Frage stellte: Wie viel Fargo ist mit Fargo machbar?
Blicken wir kurz zehn Episoden zurück zu jener kalten Nacht in einem Stasigefängnis der 80er Jahre, die im Plot der 3. Staffel von Fargo eigentlich keine Rolle gespielt hat. Es gab Verweise auf Täter und Opfer dieses Prologs, Helgas und Yuris, aber sie waren in sich widersprüchlich. Sie sollten auf sich aufmerksam machen, ihre tatsächliche Verbindung blieb unklar. Da saß also der Offizier dem verstörten Mann in Hausschuhen gegenüber und legte sich die Fakten über Schuld und Unschuld nach Staatsräson zurecht. Kein Alibi der Welt konnte den Verdächtigen retten, die "Wahrheit" stand fest. Es war ein unheimlicher Einstieg in die Fargo-Staffel und ein Versprechen des neuen Bösen, gegen das die obligatorischen Kleinstadtcops diesmal antreten würden.
Nach diesem Ausgangspunkt und allem, was V.M. Varga (David Thewlis) im Verlauf der Staffel angerichtet hat, erscheint das Ende von Somebody to Love fast optimistisch. Fargo-optimistisch. Die Autoren überlassen in dieser Klammerszene der Staffel mit Gloria (Carrie Coon) und Varga uns die Entscheidung, ob die Wahrheit sich durchsetzt oder nicht. Eine Option, die zu Beginn nicht bereitstand. Da überrollte Varga die Firma Stussy wie jener Offizier den aus dem Bett gezerrten Mann. Er schien unaufhaltsam. Der Unglauben über Vargas funktionierende Lügenmonologe und Methoden hatte etwas von jener Schockstarre gegenüber den Staat für Staat ausgezählten Wahlmännern am 8. November 2016 - und all den eklatanten Lügen und unbekümmerten Skandälchen, die den Weg dahin pflasterten. Doch Vargas Wahrheitsmonopol per Nepravda (Unwahrheit) geriet zum Ende hin ins Wanken. Gloria könnte Recht behalten. Irgendein Detail könnte Varga handfest mit den Verbrechen in Verbindung bringen. Oder Vargas Prophezeiung wird Fakt. Letztendlich liegt es bei den Zuschauern, denen diese Geschichte erzählt wurde. Und wenn die Autoren mit ihren Alien-Besuchen und himmlischen Bowlinghallen in einen Vertrauen gesetzt haben, dann ja wohl uns.
Insofern wirkt das Finale runder, als es die Staffel verdient hat. Das Stunt-Casting von Ewan McGregor vermochte abseits der Doppelgängermotivik wenig zur Staffel beizutragen, was aber auch an den Drehbuchautoren liegt. Die Gebrüder Stussy waren mit ihrem Briefmarken-Zank weit weniger interessant als die Bridge-Strategen, Technologie-Allergiker und Kosaken, die das Figurenkabinett noch hergab. Wenn man die Handlung um zwei vergleichsweise passive Streithähne anordnet, die zielorientiertere Partner an ihrer Seite haben, treiben die aktiven Figuren weg vom Zentrum. Deswegen war jedes noch so kurze Treffen von Gloria und Nikki oder Gloria und Varga oder Nikki und Sy um ein vielfaches fesselnder als die Stussy-Abenteuer. Verkürzungen, verkörpert durch die gegen Ende epidemisch auftretenden Zeitsprünge, bestärkten den Eindruck mangelnden Zusammenhalts im erzählerischen Gefüge dieser Fargo-Staffel.
In den ersten Folgen hatte sich der Eindruck eines Déjà-vus aufgedrängt, als die klassischen Coen-Elemente angeordnet wurden. Das hatte Methode in einer Staffel, die ihre eigene Fiktion von Anfang an nach außen kehrte und gleichzeitig als Kommentar politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen auffiel. So realitätsnah war Fargo noch nie, reinkarnierten Kätzchen zum Trotz. Im Einzelnen bot diese Stafffel einige der besten Folgen und Sequenzen des Serienjahres, vom Trickfilm-Ausflug nach Los Angeles über die Hetzjagd durch den Wald bis hin zum Finale, in dem Varga mit der Kavallerie geradewegs in eine Falle tappt. Staffel 3 von Fargo war schließlich auch Ausdruck des ungemeinen Selbstbewusstseins, mit dem die Autoren sich in Experimente stürzen. Darin liegt einer der Reize der Serie: Die gutmütigen Polizisten können Fleischer verhören oder eben über Aliens stolpern und in die Welt von Zeichentrickrobotern eintauchen. Das von den Coen-Brüdern vorgegebene Schema lässt diese Freiheiten.
Die Wahlfreiheit wiederum wird Nikki zum Verhängnis, als sie Emmit aus Rachegelüsten zur Strecke bringen will. Mit der Ermordung des unschuldigen State Troopers auf der Landstraße hat sie ihr von Gott bzw. Ray Wise gegebenes Recht verwirkt. Die Kugel in ihrem Kopf ist so präzise gesetzt, als hätte jemand die Hand des Schützen gelenkt. "Istina", die göttliche Wahrheit, wie Yuri einmal erklärte, schlägt sich hier blutig nieder. Mary Elizabeth Winstead brillierte in dieser Staffel und das schreibe ich nicht nur, weil ich stundenlang zusehen könnte, wie sie eine abgesägte Pumpgun nachlädt. Nikki ist eine sonderbare Mischung aus einer für Minnesota viel zu großen Schlauheit und einer fürs Fargo-Minnesota typischen Tendenz zu katastrophalen Kurschlusshandlungen. Dieses Schwanken zwischen grandioser Strategin und blendender Kurzsichtigkeit vermochte Winstead zu balancieren. Wie ein Badass sah sie dabei auch noch aus.
Carrie Coons Gloria wiederum bot den idealen Gegenpol zum misanthropische Binsenweisheiten und Verdautes speienden Varga, wenn sie auch zunächst weniger in die Handlung integriert schien als die Polizisten in den anderen Staffeln. Wann immer sich diese Staffel auf Nikki und Gloria und Minnie fokussierte, zeigte sich Fargo von seiner überzeugendsten Seite, und das war oft genug. Sollte es die letzte gewesen sein, dann endet sie mit einer idealtypischen Zusammenfassung der Serie. Das Gute und das Böse sitzen sich gegenüber und alles kann passieren.
Zitat der Folge: "It's kind of a long story, but in the end of it we all go home."
Anmerkungen am Rande:
- Auch eine Zusammenfassung der Serie: Gloria erklärt ihrem Sohn, dass die Welt manchmal wenig Sinn ergibt. Wie kommen wir da durch? Indem wir zusammenhalten.
- Hätte jetzt gern ein Weihnachtsspecial darüber, wie Mr. Wrench die fünf Jahre bis zur Ermordung von Emmit verbracht hat. Ich tippe auf einen Aushilfsjob in einem Lederwarenfachgeachäft.
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"He's a kitten now, Ray."
- Wer von euch schippt auch Heimatschutz-Gloria und Steuerfachmann Larue?
- "Sometimes the world doesn't make a lot of sense. But how we get through it is: we stick together."
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