Nach Oh Boy und Lara stand durchaus die Frage im Raum, ob Jan-Ole Gerster zum Berlin-Regisseur wird, der ein filmisches Mosaik der Spreemetropole auf die Leinwand bannt. Doch schon mit Film Nummer drei schlägt er einen Haken und liefert mit Islands einen verführerischen, geheimnisvollen Urlaubs-Thriller ab.
Egal, wie trügerisch schön die Strände von Fuerteventura sind: Unter der Oberfläche von Islands brodelt es gewaltig. Als der heruntergekommene Tennistrainer Tom (Sam Riley) auf die Urlauberin Anne (Stacy Martin) und ihre Familie trifft, ahnt er jedoch noch nicht, dass er sich bald in einem verzwickten Krimiplot wiederfindet. Denn nach einer durchzechten Nacht fehlt von Annes Mann, Dave (Jack Farthing), jegliche Spur.
Was verschlägt einen von Berlin nach Fuerteventura? Wie fängt man das perfekte Licht ein? Und wie viel Spielraum gibt es bei der Produktion eines internationalen Kinofilms? Wir haben uns mit Jan-Ole Gerster zum Interview zusammengesetzt, um über Islands zu reden, der bereits auf der Berlinale 2025 seine Weltpremiere gefeiert hat. Jetzt startet der Vacation Noir, wie Gerster ihn nennt, regulär in den deutschen Kinos.
Moviepilot: Wenn ein Film wie Islands auf der Berlinale seine Premiere feiert, wie sehr beschäftigen dich die Kritiken und Reaktionen im Anschluss?
Jan-Ole Gerster: Mich interessiert schon, wie die Stimmung ist. Im Fall von Islands war es so, dass ich den Film bei der Premiere im Zoo Palast angesagt habe und kurz im Saal geblieben bin, um Bild und Lautstärke zu checken. Dann bin ich rausgegangen, weil es mich doch irgendwie ein bisschen aufreibt. Als die ersten Kritiken eintrafen, war ich sehr glücklich, dass viele die Nuancen und Details des Films erkannt haben.
Was macht dich nervöser, wenn du bei der Premiere im Saal bist? Wie das Publikum auf den Film reagiert oder dass du etwas im Film entdeckst, dass doch nicht so geworden ist, wie du es wolltest?
Im Fall von Islands bin ich schon sehr, sehr glücklich mit dem Ergebnis. Ich würde sogar sagen, von allen drei Filmen, die ich bisher gemacht habe, kommt dieser meiner ursprünglichen Vision am nächsten. Wenn ich nicht zufrieden bin, hat es oft banale Gründe – ein Motiv, das man nicht bekommt. Oder es regnet an dem Tag, an dem man auf Sonne gehofft hatte. Insgesamt hatten wir aber sehr viel Glück beim Dreh und ich habe fast alle Motive bekommen. Die Schauspieler waren durch die Bank fantastisch und ich schaue mir den Film jetzt auch noch sehr gerne an.
Wenn ich im Saal bin, fange ich trotzdem an, jedes Hüsteln zu interpretieren. Wenn jemand nach einer Stunde auf die Toilette geht, denke ich sofort, dem gefällt der Film nicht. Dazu kommt, dass man nie entspannt zu so einer Premiere geht. Die Tage davor sind immer sehr stressig. Es ist ein bisschen wie die Vorweihnachtszeit. Man muss so viel erledigen und tausend Dinge nochmal kontrollieren. Untertitel, Pressehefte und so weiter und so fort. Ich bin dann so erschöpft von der vielen Arbeit, dass ich denke, ich kann mich hier nicht auch noch reinsetzen. Ich warte lieber einfach ab, was passiert.
Du hast mit Oh Boy einen der Berlin-Filme der 2010er Jahre gedreht und dann mit Lara einen weiteren Film, der in Berlin spielt. Islands ist jetzt etwas völlig anderes geworden. Hattest du Angst, dass es an dich als Regisseur inzwischen eine bestimmte Erwartungshaltung gibt?
Der Druck war eher beim zweiten Film, da der erste – gerade für einen Abschlussfilm – einen großen Aufschlag hatte. Ich war damals aber mehr Student als Regisseur. Mit Islands fühle ich mich jetzt in meinem Beruf angekommen, ein bisschen mehr gefestigt. Das war eine total schöne Erfahrung. Als Berlin-Regisseur sehe ich mich allerdings nicht, auch wenn ich die Stadt in Oh Boy zu einer Art Hauptdarsteller gemacht habe. Ich wollte nie der Woody Allen von Berlin werden.
Bei Lara ist die Berlin-Verortung zufällig passiert, eben auch, weil ich hier lebe. Wir hätten auch nach Köln oder Nürnberg gehen können. Islands habe ich im Lockdown geschrieben – also in einer Zeit, in der wir alle nicht reisen konnten. Da war es natürlich sehr reizvoll, mich gedanklich an einen anderen Ort zu begeben.
Würdest du sagen, es ist ein Lockdown-Film? Sam Rileys Figur hat alle Möglichkeiten und trotzdem sperrt er sich in der Enge eines Tennisplatzes ein.
Er ist insofern ein Lockdown-Film, als dass mein Wunsch, diesem Lockdown zu entfliehen, als Thema in den Film gewandert ist. Man sitzt zu Hause, will ausbrechen und träumt sich an einen anderen Ort. Also Eskapismus, Realitätsflucht und Flucht vor sich selbst. Das sind die zentralen Themen und ich glaube, das hat bestimmt etwas mit meiner Erfahrung im Lockdown zu tun. Ich wollte aber nicht explizit den einen Lockdown-Film drehen. Die Themen haben für mich eine universellere und zeitlosere Qualität.
Mich hat die Atmosphäre sehr fasziniert. Eigentlich wünscht man sich an diesen Urlaubsort, aber so, wie du die Geschichte erzählst, entsteht schnell auch ein sehr unwohles Gefühl. Wie hast du den Tonfall des Films festgelegt?
Ich habe sehr eng mit [Kameramann] Juan Sarmiento zusammengearbeitet. Wir wollten, dass der Film in die Figuren reinkriecht, weil es um das Unausgesprochene geht. Die Idee war, sich mit ganz langsamen, unheimlichen Zooms den Figuren zu nähern. Diese Zooms bringen rein physikalisch eine Perspektivverzerrung mit sich, die inhaltlich Bezug nimmt auf die Verschiebung der Wahrnehmung der Hauptfigur, ihrer Situation und der Frage, was ist hier wirklich im Gange. In Kombination mit der Musik entsteht eine unheilvolle Komponente, die nicht nur liebliche Sonnenuntergänge repräsentiert.
Gibt es einen Moment für dich, der diese Stimmung perfekt einfängt, von dem du sagen würdest, das ist die Essenz des Films?
Eine meiner Lieblingseinstellungen kommt recht spät im Film. Sam [Riley] sitzt da mit zwei italienischen Touristen bei einem Bier und die quatschen ihn voll. "Du hast alles richtig gemacht. Wow, du lebst hier, wo andere Urlaub machen. Day drinking, I love it!" Und die Kamera kriecht auf Sam zu, der sich hinter seiner Sonnenbrille versteckt. Wir sehen seine Augen nicht und wissen trotzdem ganz genau, was in ihm vorgeht. Er sagt dann: "I have no regrets." Aber das ist gelogen. In dem Moment kommt dieser Ort, die Stimmung, die Geschichte, die Figur genau auf den Punkt.
Das ist ein toller Moment! Ich mag am meisten das Bild gegen Ende des Films, wenn die Kamera auf Stacy Martin blickt und hinter ihr schäumt das Meer auf, als würde man die in ihrem Inneren brodelnden Gefühle sehen.
Das ist auch eines meiner Lieblingsbilder im Film und tatsächlich eines der wenigen, die nicht im Drehbuch standen. Das haben wir auf der Motivtour gefunden. Wenn man da am Strand entlang spaziert, kommt irgendwann eine Treppe. Und wenn man sich umdreht, sieht man Leute an einer Reling stehen und hinter ihnen wirbelt dieser massive Ozean auf eine höchst bedrohliche Art und Weise. Das Bild musste einfach in den Film.
Eine der Sachen, die ich am meisten an dem Film liebe, ist das helle Licht, das du einfängst, wenn die Figuren zum Beispiel das erste Mal am Strand sitzen. Wie kannst du als Regisseur sichergehen, dass du genau dieses Licht bekommst?
Das Licht auf Fuerteventura ist eigentlich immer toll, weil wir umgeben sind von dem blauen Atlantik und den Ockerfarben der Vulkanlandschaften. Juan hatte da immer eine App, mit der er dir genau sagen konnte, wann wir wo drehen müssen, um das perfekte Licht zu bekommen. Für den Drehplan bedeutet das manchmal aber auch, dass man um 5:00 Uhr aufsteht, damit um 6:30 Uhr die Kamera richtig steht.
Oft ist es auch ein Wettlauf gegen die Zeit. Bei der Szene, in der Sam nachts auf das Kamel trifft, wurde es sehr knapp. Das Licht verschwand, aber das Kamel wollte nicht so, wie wir es wollten. Im letzten Augenblick ist dann aber doch alles zusammengekommen. Sam, das Kamel, das Licht, die Kamerabewegung – das war absolut magisch.
Du hast vorhin über die banalen Dinge gesprochen, mit denen du manchmal nicht zufrieden bist. Gibt es eine Szene, die du gerne nochmal drehen würdest?
Nein, eigentlich nicht. Gerade in Zeiten von KI, die alles glatt macht, sind die kleinen Ungereimtheiten etwas Besonderes. Man muss einen Film als etwas Größeres begreifen als etwas, das nur nach Perfektion strebt. Es geht darum, so dicht wie möglich an seine Vorstellung heranzukommen – und das im Angesicht all der unvorhersehbaren Dinge, die auf einen Filmdreh einwirken.
Ich bin jetzt schon komplett erschöpft und ermattet von dieser KI-Ästhetik, die so gleich, tot und leblos ist. Wenn es keine total vergurkte Szene ist, fände ich es vermessen zu sagen, das muss nochmal neu gedreht werden. Ich bin sehr, sehr glücklich mit der Arbeit aller Gewerke und der Performance der Schauspieler – bis hin zu den Kleindarstellern, die wir mitunter erst in Fuerteventura bei den Dreharbeiten entdeckt haben.
Der Mann, der den Obdachlosen spielt, der mit Daves Kreditkarte Hummer essen geht – der stammt von dort. Das hätten wir aber nie so planen können. Auch der Rezeptionist im Hotel – das war eigentlich ein Rezeptionist, der in dem Hotel gearbeitet hat, in dem wir mit der Crew gewohnt haben. Wir kamen ins Gespräch und irgendwann habe ich ihn gefragt, ob er sich zutraut, eine kleine Rolle zu spielen. Das war einer der Momente, die man nicht planen kann und das Filmemachen zu etwas Aufregendem macht.
Auf der Berlinale hast du gesagt, dass der Film im Umfeld der Produktion als Mischung aus Wim Wenders und Michelangelo Antonioni umschrieben wurde. Kannst du erläutern, was du damit genau gemeint hast?
Wenn ich einen Film drehe, geht es mir nicht darum, Referenzen an andere Filmemacher einzubauen. Da ich aber seit 30 Jahren sehr intensiv Filme schaue, passiert es, dass manche Bilder, Momente, Stimmungen und Emotionen unterbewusst ihren Weg in meine Filme finden. Eigentlich ist das eine sehr schöne Sache am Kino – Bilder weitergeben und weitertragen. Hitchcock taucht auch bei [François] Truffaut und [Claude] Chabrol auf, genauso wie Sam Peckinpah und Sergio Leone bei [Quentin] Tarantino. Überall gibt es diese Assoziationen und Reminiszenzen an Filme, die es vorher gab.
Ein Mann, der aus der Wüste kommt, ist für viele Menschen mit Paris, Texas von Wim Wenders verbunden. Sam fühlte sich dagegen an The Passenger von [Michelangelo] Antonioni erinnert, als er da mit seinem Jeep stand. Ich finde das spannend, wenn man rote Fäden durch die Filmgeschichten ziehen kann. Letztes Jahr an Weihnachten habe ich mir die Fünf-Stunden-Version von Fanny und Alexander von Ingmar Bergman angeschaut. Das war der absolute Wahnsinn, wie man darin schon die späteren Filme von [Michael] Haneke und [David] Lynch entdecken kann. Das Kino ist ein sich permanent ausbreitendes Universum.
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Islands läuft seit dem 8. Mai 2025 in den deutschen Kinos.