In der Sowjetunion folgt ihr dem Stalker

25.07.2011 - 08:50 Uhr
Aktion Lieblingsfilm: Stalker
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Aktion Lieblingsfilm: Stalker
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Willkommen in der Welt von Andrei Tarkovsky, sagt uns einer unserer User. Zum Kult-Klassiker aus der ehemaligen Sowjetunion hat er uns seinen Lieblingsfilmtext geschickt.

Stellt euch folgendes vor: Ihr seid auf einer Bahnreise in die Zone. Eure Begleiter sagen kein Wort und blicken mit Gesichtern, auf denen ihr ihre Ängste und Hoffnungen ablesen könnt, in die Landschaft. Dort gibt es eigentlich gar nichts zu sehen. Links und rechts zieht Einöde behäbig vorbei, Industrieruinen und leerstehende Häuser, deren monotoner Anblick von ein paar Trümmerbergen aufgelockert wird. Die Kulisse eurer Fahrt bilden, langsam, aber stetig vor sich hinrostende Maschinenteile und gestapelte Rohre; eine dahinter liegende Landschaft könnt ihr allenfalls erahnen. Zu allem Überfluss frisst sich das rhythmische Klackern der befahrenen Schienen unerbittlich in eure Gehörgänge, bevor es zwischen den Scherbenhaufen des Fortschritts hindurch ins Nichts verhallt. Andere Menschen sind hier weit und breit nicht zu sehen, nur die verrottenden Zeugen ihres Wirkens. Endlich am Ziel angekommen, steigt ihr aus, schaut euch um und werdet von gebrochenen Strommasten, zwischen denen zerbröselnde Wrackteile liegen, empfangen. Ein sehnsuchtsvoller Blick in die weitere Umgebung erlahmt im Nebel. Völlige Stille.

Keine besonders aufregende Vorstellung, oder? Aber ihr habt freiwillig Geld für diese Reise bezahlt, habt Gesetze gebrochen und musstet sogar vor Maschinengewehr-Salven flüchten, um die Tour anzutreten. Was zunächst wie Hangover made in Brandenburg anmutet, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als weniger chaotisch. Das Motiv eurer Fahrt ist das simple, aber verheißungsvolle Versprechen, einen Wunsch frei zu haben. Dazu musstet ihr nur jemanden aufsuchen, der euch in ein bestimmtes Zimmer führt, wo dieser Traum erfüllt wird. Blöderweise liegt dieser Ort in einem geheimnisvollen Sperrgebiet, man munkelt, dort sei ein Meteor abgestürzt. Man sagt auch, dass dort merkwürdige Dinge geschehen, irrationale, unbegreifliche Ereignisse; es ist sogar die Rede von gefährlichen Fallen. Nur wenige trauen sich überhaupt, einen Fuß in die Zone zu setzen und die, die es tun, drohen an dieser Aufgabe zu zerbrechen. Der Stalker ist so ein Mensch, er riskiert seine Gesundheit und sein kleines Familienglück, damit andere ihre Wünsche erfüllen können. Er selbst hat von dieser Möglichkeit anscheinend nie Gebrauch gemacht. Seine Wohnung ist einfach möbliert, die Wände gleichen einer Dünenlandschaft und sein Sonntagsspaziergang findet für gewöhnlich in unmittelbarer Nähe des örtlichen Kraftwerks statt.

Willkommen in der Welt von Andrei Tarkowski, dem Terrence Malick der Sowjetunion. Keiner seiner sieben Filme lässt sich als optimistisch bezeichnen, aber Stalker ist einer der Hoffnungslosesten. Zerfall, Zerstörung und Verwesung wohin das Auge der Kamera schaut, mittendrin nur ein kleines, aber wirkungsvolles Versprechen als einziger Antrieb der beiden Mitreisenden. Der Wunsch, den ein Wissenschaftler und ein Schriftsteller auf dem tiefsten Grund ihres Herzens hegen, soll in Erfüllung gehen. Und dort sieht es nicht allzu rosig aus, wie sich mit der Zeit herausstellt. Tarkowski enthält uns ihre Namen vor, im Film heißen sie „Schriftsteller“ und „Professor.“ Ihr ahnt jetzt sicher schon, wohin die Reise geht. Es treten hier nicht Individuen, sondern Repräsentanten ihrer Spezies auf. Dementsprechend pointiert gestalten sich auch die Dialoge in Stalker, sie sind bedeutungsschwanger bis zum Bersten. Natürlich gilt das auch für den Rest des Films, jede Einstellung wird vom Regisseur regelrecht zelebriert, bis der Zuschauer alle Details erfasst hat. Das sorgt nicht unbedingt für Kurzweil, wird aber durch die ästhetische Qualität der Bilder aufgewogen.

Andrei Tarkowski war ein Romantiker, wie er im Buche steht. Und ich bin es auch. Nein, es geht hier nicht um die zwei-Gläser-Rotwein-plus-rote-Rose-plus-Sonnenuntergang-Romantik, sondern um die Romantik etwa eines Caspar David Friedrich mit ihren omnipräsenten Ruinen, den düsteren Landschaften und ihrer Symboldichte. Bei solcher Friedhofsstimmung schlägt der kleine Melancholiker in meinem Kopf unweigerlich Purzelbäume. Wenn es mir nur darum ginge, schön bedrückende Bilder anzuschauen, könnte ich aber auch ins Museum gehen. Vielmehr fasziniert mich an Stalker die Eigenwilligkeit des Regisseurs. Was würde dabei herauskommen, wenn sich heute jemand des Stoffes aus „Picknick am Wegesrand“, dem Buch, auf dem der Film grob basiert, annähme?

Eine Science-Fiction-Geschichte mit abgefahrener Technik und jeder Menge Action schreit geradezu nach übertriebenem CGI-Einsatz und Schnitten, die die abendliche Knabberei dazu veranlassen, es mit der Schwerkraft aufzunehmen. Andrei Tarkowski ist für mich der verfrühte Gegenentwurf zum modernen Mainstream-Kino. Seine Filme fordern Zeit und Konzentration vom Zuschauer, sie entlohnen ihn dafür mit unvergleichlicher Tiefgründigkeit. Alleine die Figuren in Stalker sind so facettenreich und widersprüchlich, wie man es sonst nur aus guter Prosa kennt. Die Handlung ist im Prinzip ein romantisches Märchen, ein Abenteuer, das simpel wirkt, aus dem Tarkowski aber nicht weniger als die Reise durch den Geist eines zerrissenen Menschen formt. Heutzutage sind Filmstorys für gewöhnlich überladen und unter einem Haufen holzschnittartigem Blendwerk begraben, ohne den wichtigen Aspekten genügend Zeit einzuräumen. Das wird einem spätestens dann klar, wenn die drei Protagonisten vor dem Zimmer und vor der Frage stehen: Soll ich jetzt hineingehen, damit mir der innigste Wunsch meines Herzens unausgesprochen erfüllt wird? Würdet ihr es tun?


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