Vier Geschichten erzählt Jia Zhangkes neuer Film A Touch of Sin. In einer läuft ein Minenarbeiter Amok, seine Opfer allesamt Mitglieder einer profitgeilen Elite. In einer anderen verkleiden sich Prostituierte in einem Bordell als Zugführer oder Soldaten, um ihre reichen Kunden zu beglücken. Seit seiner Premiere bei den letztjährigen Filmfestspielen in Cannes wird A Touch of Sin als Richtungswechsel von Jia Zhangke beschrieben, denn ein derart brutales Werk mit Affinitäten zum Genrefilm hatte Jia zuvor nicht gedreht. Er begann in den 1990er Jahren als Underground-Regisseur und gilt heute als der wichtigste chinesische Filmemacher der Gegenwart.
Vom Untergrund zum Festival-Dauergast
Im 2002 entstandenen Unknown Pleasures gibt es eine Szene, in der ein Gelegenheitsgauner der Hauptfigur Raubkopien anbietet. Nicht irgendwelche Filme werden da verschachert, sondern unter anderem Pickpocket und Der Bahnsteig, die außerhalb der chinesischen Filmindustrie – und damit der Zensur – gedreht wurden und in der Volksrepublik nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich sind. Es sind die beiden ersten Spielfilme von Jia Zhangke, zu dessen wichtigsten Einflüssen n/a (Die Reise des roten Ballons) und Robert Bresson (Pickpocket) zählen. Sein dritter heißt Unknown Pleasures. Zu diesem Zeitpunkt konnte sich Jia den selbstreferenziellen Gag leisten, denn ihm wurde durch die Zuordnung zur Sechsten Generation bereits große Beachtung auf den einschlägigen Festivals geschenkt. Die vorangegangene Fünfte Generation, zu der Regisseure wie Yimou Zhang (Rote Laterne) und Kaige Chen (Gelbe Erde) zählen, hatte das chinesische Kino etwa zeitgleich mit der wirtschaftlichen Öffnung unter Deng Xiaoping erneuert. Die Kulturrevolution und ihre Folgen waren oft Thema ihrer Werke, bis sich ihre bekanntesten Vertreter zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts dem Blockbuster-Kino zuwandten (Hero, Wu Ji – Die Reiter der Winde).
Der 1970 geborene Jia Zhangke erkundete neben n/a (Beijing Bicycle – Fahrraddiebe in Peking), Ye Lou (Suzhou River) und anderen jungen Filmemachern das Leben der urbanen Jugend sowie all jener, die beim rasanten wirtschaftlichen Aufstieg der Volksrepublik, der auf Dengs Reformen folgte, auf der Strecke blieben. Beschäftigten sich ihre Vorgänger oft mit der Vergangenheit, waren die Filme der Sechsten Generation realitätsnahe Low-Budget-Produktionen in einem teils dokumentarischen Stil mit Laiendarstellern statt Stars. Ihre offene Thematisierung sozialer Missstände musste ihre Macher zwangsläufig in Konflikt mit der Autorität bringen und so fanden die Werke über den Schwarzmarkt und internationale Festivals ihre Zuschauer. Anders als Kollegen wie Lou Ye blieb Jia Zhangke im Laufe seiner Karriere von einem Berufsverbot verschont. Es gelang ihm, ab seinem 2004 entstandenen The World im Rahmen des Systems zu arbeiten, ohne dass seine künstlerische Integrität auf der Strecke blieb. Jia geht gezielten Tabubrüchen aus dem Weg und setzt in Spielfilmen und Dokus auf die Ausdruckskraft seiner atemberaubend entworfenen Bilder und deren Mehrdeutigkeit. In The World begleiten wir Mitarbeiter des Beijinger World Parks bei ihrer Arbeit. In dem Park können chinesische Touristen Miniaturen des Eiffelturms oder der Pyramiden bewundern, Sehenswürdigkeiten, deren Besuch sie sich nie leisten könnten. Unknown Pleasures erzählt von drei jungen Leuten in Jias Heimatprovinz Jianxi, die ohne Ziel und Perspektive durch eine industrielle Trümmerlandschaft irren. In seinem mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten Film Still Life sucht ein Mann in Fengjie nach seiner Frau und Tochter, während die Einwohner ihre eigene Stadt zerstören: Sie soll wegen des Baus des Drei-Schluchten-Staudamms überflutet werden.
Nomaden im modernen China
Auf einem Flussdampfer fährt die Kamera in Still Life über den Jangtsekiang und lässt uns diese in rapider Veränderung befindliche Landschaft mit ihren Ruinen verlassener Städte betrachten. Vielfach bleibt Jias Figuren nur noch dieser Blick auf eine Welt, die ihnen jegliche Verwurzelung verweigert. Sie sind moderne Nomaden ohne Aussicht darauf, je irgendwo anzukommen. In A Touch of Sin spitzt er dieses Motiv zu, wenn er in Anspielung an King Hus Ein Hauch von Zen (Internationaler Titel: A Touch of Zen) den wandernden Schwertkämpfern mit einem kaltblütigen Killer und einem Arbeiter auf einem Selbstjustiztrip moderne Entsprechungen kreiert. Wie in vielen Wuxia-Geschichten auch agieren die vier Helden des Films in einem rechtsfreien Raum voller korrupter Profiteure. Dabei ist Jias Film kein Aufruf zur Rebellion. Seine Inspiration ist auch hier die chinesische Realität. Über den Kurznachrichtendienst Weibo, auf dem Jia mittlerweile elf Millionen Follower hat, wurde er auf viel diskutierte Verbrechen in den Provinzen der Volksrepublik aufmerksam. Es sind erschreckende Ausbrüche der Gewalt, über die in parteinahen Blättern nicht berichtet wird, die dank der Popularität des sozialen Netzwerks aber kaum verschwiegen werden können. Jia mag sich mit A Touch of Sin langsam dem Genrefilm zuwenden. Ein bedeutender Chronist der chinesischen Gegenwart bleibt er nichtsdestotrotz.
Zum Weiterlesen:
Heard It Through the Grapevine (Film Comment)
Filmmaker Giving Voice to Acts of Rage in Today’s China (New York Times)
In der aktuellen Ausgabe des Magazins Cargo gibt es einen lesenswerten Text über A Touch of Sin.