Sie ist anwesend in dem kleinen Gerichtsraum und es geht um sie. Und doch vergehen über drei Minuten, bevor Viviane Amselm (Ronit Elkabetz) erstmals ins Bild kommt, gezeigt aus der Perspektive ihres stoisch-destruktiven Ehemannes. Zuvor sehen wir ihn und ihren Anwalt, der dem Richter von den Scheidungswünschen seiner Mandantin berichtet. Die Männer reden für und über Viviane. Dass sie dort ist in diesem schicksalhaften Raum, den der Film nur in wenigen Momenten verlassen wird, verraten die auf sie gerichteten Blicke der Männer, die die Kamera immer wieder einfängt.
Es ist das Unglück der Viviane Amsalem, das bereits in diesen ersten Minuten wie ein Pendel über dem Raum schwebt: ihre Unmündigkeit als Frau in einem patriarchalen System. Denn Vivianes Gefühle gegen ihren Mann Elisha (Simon Abkarian), die seit über zehn Jahren nicht mehr vorhandene Liebe, sind keine Argumente für eine Scheidung. Das jüdisch-orthodoxe Rabbinatsgericht braucht einen wirklichen Grund, aber: keiner der Ehepartner wurde betrogen, keine häusliche Gewalt, keine körperlichen Anomalien etc., einfach »nur« einseitig verloschene Liebe. Das Paar lebt seit Jahren getrennt, aber Elisha will Viviane nicht loslassen, ihr auf keinen Fall den Scheidungsbrief ausstellen.
Shlomi Elkabetz und seine Schwester Ronit, die zugleich mit zurückhaltend-intensivem Spiel die Viviane mimt, erzählen von einem wunden Punkt im gesellschaftlichen System Israels: Es gibt dort nämlich keine zivile Ehe auf gesetzlichen Grundlagen, sondern nur die religiöse. Für Eheschließungen und eben Scheidungen ist folglich immer die jeweilige religiöse Gemeinschaft zuständig, und ohne das Okay des Ehemannes kann keine Scheidung vollzogen werden. Mit »Get« bringen die Geschwister ihre Trilogie um das Ehepaar Amselm zum Abschluss, die 2004 mit „Getrennte Wege“ ihren Anfang nahm und 2008 mit »Shiva« fortgesetzt wurde.
»Get« ist ein beklemmendes Drama, das die Folgen archaischer Strukturen und gesellschaftlicher Restriktionen aufzeigt. Die Enge des Gerichtssaales wird denn auch zum Sinnbild des pseudoreligiösen Machismo, der Viviane in Ketten legt. Ihr Kampf für die persönliche Freiheit wird zur Lebensaufgabe; über Jahre hinweg immer wieder neue Verhandlungstermine, ein nicht erscheinender Ehemann, Zeugenaussagen von Bekannten und Verwandten, die entweder Elishas weiße Weste noch weißer waschen sollen oder eben im Sinne Vivianes Gründe für die Scheidung nennen sollen. Das macht wütend, wütender, als es die innerlich zerrissenen Figuren vor Gericht nach außen hin zeigen wollen und dürfen. Nicht zuletzt, weil »Get« trotz des nüchternen Spiels und der kargen Inszenierung ein sehr subjektiver Film ist. Immer nimmt die Kamera den Blickwinkel eines Beteiligten ein und macht uns damit zum Teil des Kammerspiels und zu Vivianes Verbündeten. In den Arm nehmen möchte man diese starke Frau und ihr helfen, dieses absurde System zu überwinden.