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Kritik zu »Wild«

18.09.2016 - 23:26 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Vorsichtige Annäherung: Fütterungszeit für den Wolf in der Plattenbauwohnung
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Vorsichtige Annäherung: Fütterungszeit für den Wolf in der Plattenbauwohnung
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In der dritten Regiearbeit von Schauspielerin Nicolette Krebitz holt sich eine junge Frau einen Wolf in die Wohnung und erlebt ihr ganz eigenes Coming of Age.

Eine junge Frau trifft einen Wolf, es knistert irgendwie, sie fängt das Tier und nimmt es mit in ihre Wohnung. Dort hausen die Beiden nach einigen »Startschwierigkeiten« in paarähnlicher Zweisamkeit. Was nach einer verrückten zoophilen Liebesgeschichte klingt, entpuppt sich dank der einfühlsamen Regie von Nicolette Krebitz und der grandiosen Lilith Stangenberg als äußerst originelles und zugleich verstörendes Coming of Age, das mächtig an dem Korsett menschlichen Zusammenlebens rüttelt.

Alles beginnt mit dem plötzlichen Aufbegehren der jungen Ania: Sie lebt einsam und zurückgezogen in einer Plattenbauwohnung in Halle an der Saale, trottet durch ihren tristen Alltag in der wolkenverhangenen Grenzstadt und arbeitet für den wenig sympathischen bis ekelhaften Boss Boris – herrlich gespielt von Georg Friedrich mit gewohnter Chauvimine. Der Großvater liegt im Sterben, von den Eltern keine Spur. Die Gefühlslage ist ein bitteres grau in grau, bis eben zu jener schicksalhaften Begegnung mit dem Vierbeiner. Da passiert etwas mit Ania, vielleicht ist es Liebe auf den ersten Blick, vielleicht einfache Faszination. Jedenfalls nimmt eine spannende Verwandlung ihren Lauf: Wir sehen mit an, wie die zunächst schüchterne Frau mit dem Wolf rangelt; wie sie ihre ungehemmte sexuelle Seite entdeckt und auslebt; wie sie peu à peu die zivilisatorischen Ketten ablegt und zusehends verwildert.

Nicolette Krebitz findet für diese prozesshafte Verwandlung bedrohliche und faszinierende Bilder, die von einem bassig-wummernden Soundtrack unterstrichen werden. Das eigentlich erstaunlichste an dem Film ist allerdings Lilith Stangenberg. Dieses zierliche Persönchen tanzt mit dem (realen!) Wolf – im Interview erklärt Krebitz, dass sich Stangenberg für den Umgang mit dem Tier dicken Respekt beim Team eingefahren hat – und spielt die Tierwerdung äußerst überzeugend und mit vollem Körperseinsatz. Eine fast schon spürbare Energie wird freigesetzt auf diesem Weg des stillen Mauerblümchens zur animalischen Explosion.

Anders als beim thematisch verwandten Aussteigerdrama »Into the Wild« von Sean Penn folgt Anias Metamorphose keiner ideologisch aufgeladen Motivation. Wo sich Penns überidealistischer Christopher McCandless bewusst gegen den Materialismus entscheidet und als Mensch in der Natur überleben will, legt Ania in »Wild« aus einer instinktiven Sehnsucht nach animalischer Freiheit alles Menschliche ab. Es ist ein Ausbrechen aus der neoliberal vorgeheuchelten Freiheit, von der Krebitz in »Wild« auch erzählt, und zwar bis zur letzten Konsequenz. Wo Etikette, kulturelle und gesellschaftliche Restriktionen keinen Einfluss mehr haben, wartet eben die reine Wildnis.


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