Läutet Okja eine neue Ära an Netflix-Filmen ein?

02.07.2017 - 09:00 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
OkjaNetflix
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Am vergangenen Mittwoch feierte Okja auf Netflix seine Premiere, nachdem der Film bereits im Mai in Cannes zu sehen war. Selten wurde dermaßen euphorisch über einen Netflix-Film geredet. Ist das der Anfang einer neuen Ära?

Während sich Netflix im Verlauf der vergangenen Jahre zu einer der tonangebenden Konstanten in der Serienlandschaft entwickelt hat, wenn es um hochwertige Eigenproduktionen geht, ist vom Filmbereich des US-amerikanischen Streaminganbieters bisher hauptsächlich Durchschnittliches zu vernehmen. Abseits der lizenzierten Titel, die nochmal ein anderes Thema sind, hat sich Netflix nach dem durchschlagenden Erfolg von Originalen wie Orange Is the New Black und House of Cards ebenfalls auf die Produktion von abendfüllenden Spielfilmen fokussiert, deren Anfang mit Beasts of No Nation kaum spektakulärer hätte ausfallen können. Gleich mit Oscar-Aussicht ausgestattet enterte Netflix das Filmgeschäft mit einer bärenstarken Performance von Idris Elba und energiegeladenen Bildern, die True Detective-Regisseur Cary Fukunaga zu verantworten hatte. Die nachfolgenden Original-Filme sorgten allerdings für weniger Euphorie.

Zwei Jahre nach dem großen Knall sieht die Bilanz überaus ernüchternd und ein bisschen irritierend aus. Denn was nach Beasts of No Nation folgte, waren überwiegend Content optimierte Filme, die selten eines der Versprechen einlösten, die sie zuvor in Aussicht gestellt hatten. Die gewaltigen Bilder von Beasts of No Nation wichen schnell dem Antlitz lustlos abgedrehter Komödien und wir wurden Zeugen, wie sich Ricky Gervais und Eric Bana durch zwei elend lange Stunden von Special Correspondents quälten, während nicht einmal Adam Sandler etwas mit der kreativen Narrenfreiheit seiner vier (mittlerweile acht) Netflix-Filme anzufangen wusste. Für jeden Sundance-Boost, den Tallulah und Umweg nach Hause erhalten haben, gibt es mindestens einen XOXO, von Die wahren Memoiren eines internationalen Killers ganz zu schweigen. Das Liste scheint ausweglos, besonders im Hinblick auf die netflix'sche Königsdisziplin.

Crouching Tiger, Hidden Dragon: Sword of Destiny

Bevor der VoD-Gigant großflächig damit angefangen hat, seine eigenen Sachen zu produzieren, hangelte er sich mit der Rettung geliebter, aber von anderen Sendern abgesetzter Serie in die Schlagzeilen. Arrested Development, The Killing sowie kürzlich Black Mirror sind nur ein paar Namen dieses auserwählten Zirkels wiederbelebter Serien. Auch bei den Original-Filmen sollte diese Strategie nun funktionieren, denn plötzlich erhielt Paul Reubens die Möglichkeit, noch einmal seine Kultfigur Pee-Wee Herman zum Besten zu geben, und Ang Lees sagenhafter Tiger & Dragon wurde mit der Fortsetzung beehrt, an die nicht einmal die hartgesottensten Fans geglaubt haben. Rückblickend haben jedoch weder Pee-wee's Big Holiday noch Crouching Tiger, Hidden Dragon 2: Sword of Destiny bleibenden Eindruck hinterlassen, vor allem im Gegenteil zur Doku- und (Stand-up-)Special-Sparte, die dank ihrer interessierten und mit der Zeit gehenden Vielfalt blüht.

Auftritt Okja (und The Meyerowitz Stories): Nach all dem Frust über vertane Chancen und künstlerische Enttäuschungen sorgt Netflix einmal mehr für Aufruhr sowie Beifall und Buhrufe, nachdem es dieses Jahr gleich zwei Netflix-Filme in den Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes geschafft haben. Die Diskussion dreht sich dabei neben strukturellen Problemen um den Wert des Kinos im (Netflix-)Film. Schlussendlich punkten aber beide Werke bei den Kritikern und deuten eine neue Kursrichtung an, die Beasts of No Nation seinerzeit bereits hat durchblicken lassen. Wenngleich der ebenfalls erst kürzlich gestartete War Machine erneut an der Konzeption der Original-Produktionen zweifeln lässt, stellt jedoch gerade Okja wieder den Auteur in den Vordergrund und gewährt es ihm, genau die Art von Film zu machen, die aktuell in Hollywood aufgrund von Franchises und Cinematic Universes in die Ecke gedrängt wird und zunehmend zu verschwinden droht.

The Meyerowitz Stories

Okja strahlt eine unglaubliche Frische aus, wie sie kein Marvel-Blockbuster der letzte Jahre versprühte und transportiert die Vision einer Filmwelt, in der ein diverses wie internationales Ensemble genauso selbstverständlich ist wie die Untertitel, die im Zweifelsfall eingeblendet werden müssen. Wo sich Netflix in puncto Serien momentan immer mehr einem klassischen Network annähert, könnten die Originale im Filmbereich in den nächsten Wochen und Monaten ordentlich aufblühen. Denn sowohl die finanziellen Ressourcen sind gewährleistet als auch der Schrecken vor Wagnissen noch nicht allzu groß. So kann problemlos ein gigantisches Superpig im Zentrum eines Actionfilms stehen, der sich gleichzeitig als Coming-of-Age-Geschichte und Öko-Parabel versteht, ohne im entscheidenden Augenblick auf die PG-13-Freigabe zu achten. Ein Blick auf das bisherige Kinojahr lässt genau so einen Film sehr vermissen.

Auf was dürfen wir uns also in Zukunft freuen? Sicherlich wird es weiterhin die unnatürlich auf eine bestimmte Zielgruppe maßgeschneiderten und wie aus einem Baukasten zusammengesetzten Netflix-Filme geben, die kaum Eigenleben besitzen und daher in den meisten Fällen völlig uninteressant sind. Neu dagegen ist die Hülle und Fülle an vielversprechenden Projekten, bei der sich vor und hinter der Kamera kreative Menschen befinden, die bereits bewiesen haben, dass sie über eine ganz besondere Filmsprache verfügen. In greifbarer Nähe wären zum Beispiel Adam Wingards Realverfilmung von Death Note mit Willem Dafoe als Todesgott Ryuk und Duncan Jones' in Berlin gedrehter Cyberpunk-Thriller Mute, der als Mischung aus Casablanca und Blade Runner umschrieben wird, und darüber hinaus als zweites Segment einer Trilogie fungiert, die weiterhin aus Moon und einem noch nicht weiter bekannten Film besteht.

Mute

Natürlich sollte es zu denken geben, dass wir Martin Scorseses nächsten Film The Irishman (voraussichtlich) nicht im Kino, sondern nur auf Netflix sehen werden. Dieser durchaus beängstigende Aspekt der Entwicklung darf nicht vergessen werden. Gleichzeitig ist Okja der beste Beweis dafür, dass der Streaminganbieter in der jetzigen Filmlandschaft ein geeigneter Ort ist, um mit möglichst vielen Freiheiten eine spannende Idee zu verfolgen. Nicht zuletzt ist es Netflix zu verdanken, dass wir mit The Other Side of the Wind bald den letzten, unvollendeten Film von Regielegende Orson Welles nach fast einem halben Jahrhundert doch noch zu Gesicht bekommen. Die aufwendige Komplettierung eines als verloren geglaubten Werkes ist keine Selbstverständlichkeit, besonders für einen mittlerweile im Mainstream angekommenen VoD-Service wie Netflix. Die Frage ist bloß, wie lange diese begrüßenswerte Phase im Bewusstsein der Filme anhalten wird.

Wie bereits angedeutet trifft Netflix seit Kurzem im Serienbereich harte Entscheidungen, die jüngst unter anderem zur Absetzung von Sense8 und Girlboss führten, und will sich fortan mit mehr Experimenten auf ein weniger experimentelles Programm konzentrieren. Dieses Schicksal wird früher oder später auch die Netflix-Filme einholen. Bis es jedoch so weit ist, dürfen wir uns mindestens noch über einige ambitionierte Projekte von aufregenden Regisseuren freuen. Dazu gehören etwa Our Souls At Night von Ritesh Betra, Apostle von Gareth Evans, Hold the Dark von Jeremy Saulnier und Newness von Drake Doremus. Solange das Kino nicht bereit ist, solchen Künstlern eine angemessene Plattform zu gewähren, können sie die virtuellen Regale der Netflix-Bibliothek gerne mit ihren Visionen füllen. Insofern hat Okja tatsächlich das Tor in eine neue Ära des Netflix-Films aufgestoßen, wenngleich jetzt schon klar sein dürfte, dass diese Ära nicht für immer anhalten wird.

Auf welche eigenproduzierten Netflix-Filme freut ihr euch am meisten?

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