Lynne Ramsay spricht über den "Taxi Driver des 21. Jahrhunderts"

26.04.2018 - 11:00 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Joaquin Phoenix und Ekaterina Samsonov in A Beautiful DayConstantin Film
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Zum heutigen Kinostart von A Beautiful Day sprach Regisseurin Lynne Ramsay im Interview über ihre Zusammenarbeit mit Joaquin Phoenix und die Entwicklung ihres prämierten Films.

Schon letztes Jahr im Mai feierte das Thriller-Drama A Beautiful Day, das auch unter dem Originaltitel You Were Never Really Here bekannt ist, Premiere auf dem 70. Cannes Filmfestival. Heute, am 26.04.2018, startet der Film von Lynne Ramsay, in dem Joaquin Phoenix ein entführtes Mädchen finden muss, in den deutschen Kinos.

Lynne Ramsay, die schon 2011 mit We Need to Talk About Kevin viel Lob erntete, gewann für A Beautiful Day in Cannes den Preis für das Beste Drehbuch. Zum Kinostart hat sie sich Zeit für uns genommen, um über den Film zu sprechen.

Lynne Ramsay war von Anfang an von der Geschichte fasziniert

A Beautiful Day basiert auf einer Kurzgeschichte von Jonathan Ames. Wie ist dir die Story begegnet und warum wolltest du einen Film daraus machen?
Lynne Ramsay:
Das Buch wurde damals nur in Frankreich veröffentlicht. Eine Freundin schickte es mir zu, weil wir beide eine Leidenschaft für Genrefilme hegten. Ich las die Geschichte in 90 Minuten durch, was auch ungefähr die Länge meines finalen Films ist.

Joe war ein sehr untypischer Charakter für die Geschichte, ein mittelalter Mann, der bei seiner Mutter lebt, der nicht unbedingt mit dem weiterleben will, was er gesehen hat, der Narben aus der Vergangenheit trägt, sowohl physisch als auch emotional. Ich dachte, ich kann dieser Geschichte mehr Tiefe verleihen. Ich schrieb den ersten Entwurf, obwohl wir die Rechte noch nicht besaßen. Dann kontaktierte ich Jonathan Ames und besprach meine Idee mit ihm. Er mochte meine bisherige Arbeit und war von dem Entwurf begeistert.

Lynne Ramsay mit Joaquin Phoenix am Set von A Beautiful Day

Die Geschichte war für mich eher ein Sprungbrett, der Film ist keine komplette Adaption des Buches. Der finale Film ist eher eine Eigenkreation, viele Szenen habe ich dazu erfunden. Die Beziehung zwischen Joe und seiner Mutter wollte ich beispielsweise mehr ausbauen und ihr etwas Humor, aber auch Frustration geben. Manchmal treibt sie Joe auch in den Wahnsinn.

Als A Beautiful Day in Cannes prämierte, war der Film noch nicht fertig. Was hat sich bis zur finalen Version noch geändert?
Lynne Ramsay:
Ich habe einige Szenen gedreht, die in Cannes nur als eine Art Storyboard zugänglich waren. Das waren hauptsächlich die Rückblenden, die ich weniger narrativ, sondern mehr als Erinnerungen oder PTBS [posttraumatische Belastungsstörung] zeigen wollte, wie Glasscherben, die in den banalsten Situationen in Joes Gedächtnis durchbrechen.

Nach Cannes hatte ich auch nicht viel Zeit. Trotzdem konnte ich diese Elemente verfeinern, sodass sie jetzt besser ineinandergewebt sind. Auch am Sound und der Musik habe ich noch viel gearbeitet.

Lynne Ramsay und ihre Zusammenarbeit mit Joaquin Phoenix

Warum wolltest du Joaquin Phoenix für die Hauptrolle in A Beautiful Day?
Lynne Ramsay:
Das war sehr leicht. Ich denke, er ist der beste aktive Schauspieler der Welt. Ich wusste, dass er den Charakter dreidimensionaler machen würde. Viele dieser Filme sind voller Klischees und er würde die Figur definitiv nicht als "Sixpack-Helden" spielen.

Joaquin Phoenix und Ekaterina Samsonov am Set von A Beautiful Day

Da er sehr wählerisch sein kann, wusste ich nicht, ob er einverstanden sein würde. Ich habe sogar sein Bild als Bildschirmschoner als Inspiration benutzt. Glücklicherweise spielte mir das Schicksal in die Hände und Joaquin unterhielt sich mit Kameramann Darius Khonji, mit dem ich beinahe zusammengearbeitet hätte. Joaquin fragte nach den interessanten Regisseuren, die Khonji kannte, und er nannte mich.

Wie war dein erstes Meeting mit Joaquin Phoenix?
Lynne Ramsay:
Also, für uns beide war es ja das erste Mal. Zuvor haben wir uns nie getroffen. Zuerst haben wir telefoniert. Ich wohnte damals in einem kleinen Dorf in Griechenland, also war es nicht die beste Verbindung. Außerdem redete ich mit schottischem Akzent. Später erzählte mir Joaquin, dass er nur 50% von dem verstand, was ich gesagt hatte. Vielleicht habe ich ihn so dazu überredet. Ich hab gefragt, ob er mitspielen würde und er hat einfach "ja" gesagt, ohne ein einzelnes Wort verstanden zu haben.

Als ich ihn dann traf, war es echt verrückt. Er hatte nur ein Zeitfenster von zwei Monaten und fragte mich, ob das so möglich wäre. Ich stimmte zu, obwohl ich immer noch am Drehbuch arbeitete und noch keine vollständige Crew hatte. Plötzlich steckten wir viel schneller drin als wir dachten. Dann hat er sich vor meinen Augen in dieses "Biest" verwandelt. Ich hab ihn auch in den Casting-Prozess eingebunden, damit die Chemie zwischen ihm und dem Rest der Schauspieler stimmte.

Die Times nannte A Beautiful Day den "Taxi Driver des 21. Jahrhunderts". Was hältst du von dieser Aussage?
Lynne Ramsay:
Diese Aussage kam wohl in Cannes zustande und blieb dann bestehen. Es war aber nicht etwas, worüber ich ständig nachdachte. Trotzdem ist es natürlich schmeichelhaft. Es ist ein Klassiker und ich verstehe, warum Zuschauer diese Verbindung ziehen, das Setting in New York City, das Mädchen. Joe ist auf eine andere Art und Weise ein Wahnsinniger, der aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. Jemand anderes nannte auch Point Blank als Vergleich, was ich noch passender finde.

Lynne Ramsay mit Joaquin Phoenix am Set von A Beautiful Day

Erst die Musik macht aus A Beautiful Day einen fertigen Film

War es dir wichtig, für die Musik mit Jonny Greenwood zusammenzuarbeiten?
Lynne Ramsay:
Ich hab mit Jonny schon an meinem letzten Projekt gearbeitet und es wirklich genossen. Er ist unglaublich. Wir haben darüber gesprochen, wieder zusammenzuarbeiten, doch als die Produktion ins Rollen kam, war er mit Radiohead auf Tour unterwegs. Ich hab ihm dennoch immer wieder Material zugeschickt und er wurde immer mehr einbezogen.

Keiner von uns beiden hat eine konventionelle Arbeitsweise. Jonny wird von dem Material inspiriert und erschafft dann den Soundtrack. Ich arbeite von Beginn an am Sound und der Musik und füge sie nicht erst später hinzu. Es war also eine gute Kombination, da der Sound zu der Gestaltung des Films beiträgt und nicht umgekehrt.

Sein Score ist wie Joe. Du denkst du weißt, was dich erwartet und dann geht es in eine völlig andere Richtung. Ich fand es überwältigend und jedes Mal, wenn Joe Bini (der Editor) und ich eine Audiodatei von ihm bekamen, hüpften wir auf und ab wie Kinder, die gerade ein Geschenk erhalten haben.

Bilder und Soundeffekte spielen in A Beautiful Day fast eine größere Rolle als Worte. Warum hast du dich für diese Technik entschieden?
Lynne Ramsay:
Ich entscheide mich grundsätzlich nicht für eine Technik. Ich weiß nicht einmal, was meine Technik ist. Ich mache einfach, was sich für diesen speziellen Film richtig anfühlt. Ich fühle mich davon angezogen, was eine Geschichte ausmacht. Deshalb bin ich Filmemacherin. Ich liebe Filme, die experimentell sind, und bei denen du dich in eine andere Welt versetzt fühlst, auch wenn der Film schon vorbei ist.

Wie gefiel euch Lynne Ramsays A Beautiful Day?

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