Jetzt also auch noch Mamma Mia!. Es reichte nicht, dass unsere Leinwandhelden wie Johnny Depp oder Ewan McGregor sich nicht entblödeten spontan in Lieder auszubrechen, jetzt fängt auch noch James Bond himself, Mr pierce Brosnan, an zu trällern. Wie peinlich ist das denn?
Und überhaupt: Musicals sind dumm. Sie sind unrealistisch! In einer Sekunde findet eine normale Unterhaltung statt und in der nächsten wirft sich plötzlich die komplette Miederwarenabteilung von Galleria Kaufhof in Pose und legt aus dem Stand eine perfekte Choreographie zwischen Wonder-Bra und Rolltreppe hin. Klar, sowas passiert ja jeden Tag.
Sowas können nur Frauen gut finden. Gehauchtes Liebesgesäusel in der West Side Story, getanzter Flurschaden in The Sound of Music, elaborierte Jammerarien von Evita und auch Richard Gere macht sich in Chicago singend zum Suppenkasper. Musicals schwelgen in Romantik und Kitsch und einer aseptischen Guten-Laune, die verschreibungspflichtig sein sollte.
Musicals… sind unmännlich. Echte Männer tanzen nicht. Harte Kerle singen höchstens Rocksongs und hopsen dazu nicht mit gymnastischen Verrenkungen über Wiesen, Felder und quietschebunt beleuchtete Hollywood-Sets.
Musicals sind was für Weicheier. Muschis. Frauenversteher.
Okay, Blues Brothers waren cool. Und School of Rock war auch irgendwie ganz okay. Wegen Jack Black und so. Aber ansonsten gilt: Mann guckt sich keine Musicals an. Musicals sind eine Stufe von Ballett entfernt. Sie sind irgendwie… suspekt. So wie man nicht glaubt, dass jemand, der in Strumpfhosen herumhüpft, wirklich kerlig sein kann, sowenig ist es normal, plötzlich eine Tanznummer hinzulegen und sich beschwingt an der Feuerleiter herunterzulassen, während man Loblieder auf Dreckswetter tiriliert.
Die einzigen, die cool sind, wenn sie in Spandexhosen herumrennen, sind Superhelden. Und natürlich sind Kampfchoreographien in Actionfilmen cool, die haben sowas… ähm tänzerisches. Und überhaupt, Action-Filme und die üblichen Sommerblockbuster sind wirklich realistisch! Da explodieren ständig Sachen, wie im richtigen Leben. Da wird gekämpft, geschossen und es rennen Riesenroboter herum. Und Außerirdische.
Dafür wird Kino gemacht. Männliches Zeug eben.
Mamma Mia! ist suspekt. Musicals sind suspekt. Auf einer griechischen Insel rumrennen und ABBA-Songs singen? Lustige Sitcom-Verwickungen, wer denn der Vater der jungen Sophie ist? Meryl Streep, die große Tränenfrau der 80er Jahre, als derbe Do-It-Your-Self-Walküre? Sonnendurchflutete Sets, perfekte Massenchoreographien? Lieder, die jeder Zuschauer sofort mitsingen kann und die im Kontext der Handlung plötzlich einen ganz neuen Sinn bekommen? Diese absolut ansteckende gute Laune, die einen mit sarkastischem Humor, viel ironischer Distanz und dem Mut zur Albernheit zwei Stunden in eine Welt entführt, die so ist wie das reale Leben sein sollte.
Ja, ich gebe es zu: Ich liebe Musicals. Es hat keinen Zweck mehr sich zu verstellen, nur weil die meisten Männer alleine bei der Erwähnung des Wortes Musical Herpes bekommen. Legion sind die entsetzen Zuschauer, die unwissend in Sweeney Todd – Der teuflische Barbier aus der Fleet Street rannten und dann im Kinosaal nach 10min entsetzt flüsterten: “Oh Gott, singen die jetzt?”
Ja, die singen jetzt. Und das ist auch gut so. Denn gute Musicals schaffen es, über die Songs die Handlung auf den Punkt zu bringen. Emotionen zu konzentrieren und Figuren innerhalb von drei Minuten besser zu charakterisieren, als es andere Filme in einer halben Stunde schaffen. Denn Musik geht direkt ans Gefühl. Sie verstärkt, sie überhöht. Steve Martin ist göttlich als sadistischer Zahnarzt in Der kleine Horrorladen, Judy Garland bezaubernd in The wizard of Oz, Julie Andrews und Dick van Dyke genial als Supercalifragilistische Kinderbetreuer, Tim Curry zurecht eine Legende für seine Interpretation von Frank’N’Furter in The ROcky Horror Picture Show, ja selbst Madonna dürfte mit Evita den einzig anschaubaren Moment ihrer “Schauspielkarriere” abgeliefert haben.
Musicals bewegen sich immer an der Grenze zum Kitsch und die guten sind sich der Irrationalität ihrer Tanznummern auch bewusst. Sie zelebrieren den Moment, in dem Emotionen zu Songs gerinnen. Liebe, Hass, Freude, Trauer – alles eingefangen und ironisch überspitzt in kleinen Vignetten. Tanzen und Singen, in großen Choreographien, miteinander, gegeneinander, verströmt in den besten Fällen eine Power, eine Kraft die kein Actionfilmen je einfangen könnte. Es hat den Mut zur großen Geste, zum großen überdimensionalen Gefühl, zum Pathos, zur selbstbewussten, divenhaften Inszenierung. Es versteckt sich nicht hinter vermeintlichem Realismus, sondern steht zum Überlebensgroßen, zur Show. Es verleiht Alltagssorgen und Problemen, für einen Moment die Wichtigkeit, die sie für den Einzelnen haben. Denn die echten Gefühle sind für jeden überstrahlend und allumfassend – nur wird diese Wahrnehmung meist von niemand Außenstehenden verstanden oder geteilt.
Wenn in Der kleine Horrorladen Audrey II am Ende das Blumengeschäft in Grund und Boden rockt, wenn in Hairspray subversiv die TV-Normen und Rassenschranken im Song You can’t stop the beat ausgehebelt werden, wenn Ewan Mcgregor und Nicole Kidman sich in Moulin Rouge in einem Tour-de-Force-Medley durch Zeit und Weltraum singen, wenn Meryl Streep und Pierce Brosnan auf einer Klippe The Winner Takes it all schmettern – dann erreicht das Musical seine besten Momente. Es erreicht Herz und Hirn, es inspiriert, es transportiert einen in eine bessere Welt, die genau so sein sollte.
Manchmal möchte man die ganze Welt umarmen, umherwirbeln, vernichten und neu erschaffen. Möchte, dass sich für Sekunden alles nur um einen selbst dreht und der Verdacht, die Mitmenschen seien sowieso nur Statisten der eigenen Welt, endlich bestätigt wird. Kitsch, Pathos, Power.
Für einen Moment diese Macht haben, diese Kraft genießen und sich mitreißen und begeistern lassen. Das ist Musical. Das ist cool.
Auch wenn mal nichts explodiert.
PS: I just wanna fucking dance