Ohne einen der besten Schauspieler des Jahrhunderts wäre der Eröffnungsfilm von Venedig verloren

27.08.2025 - 19:15 Uhr
La Grazia eröffnet das Festival von Venedig
Mubi
La Grazia eröffnet das Festival von Venedig
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Zur Eröffnung der 82. Filmfestspiele von Venedig stellt Regie-Nostalgiker Paolo Sorrentino seinen neuen Film La Grazia vor, der mit Humor und einem grandiosen Hauptdarsteller aufwartet.

Letztes Jahr geisterte Tim Burtons Beetlejuice Beetlejuice durch die Eröffnung der altehrwürdigen Filmfestspiele von Venedig, diesmal geht es getragener zu. Die 82. Ausgabe des ältesten aller Filmfestivals wird am heutigen Mittwoch mit dem neuen Film von Paolo Sorrentino (La Grande Bellezza, The Young Pope) eingeläutet, seines Zeichens Meister in der Inszenierung dekadenter Filmpartys und Machtspiele. La Grazia heißt das Werk über einen fiktiven Präsidenten, der kurz vor Ende seiner Amtszeit drei schwerwiegende Entscheidungen treffen soll.

Der großartige Toni Servillo spielt die Hauptrolle in La Grazia

Eine Institution, die noch altehrwürdiger ist als die Biennale in Venedig, kürte 2020 die besten Schauspielenden des 21. Jahrhunderts. Natürlich lässt sich über die Liste der New York Times  streiten. Die hat Isabelle Huppert nämlich nur auf Platz 2 hinter Denzel Washington gesetzt, was selbstverständlich an Gottesfrevel grenzt. Über Platz 7 war ich allerdings rundherum zufrieden. Da hatte es sich der mittlerweile 66 Jahre alte Italiener Toni Servillo gemütlich gemacht.

Wer Toni Servillo noch nicht in einem Film gesehen hat, könnte ihn beim ersten Anblick mit einem Mitarbeiter in einer verschlafenen neapolitanischen Postfiliale verwechseln. Oder man könnte ihn für einen Kontrolleur in einem dieser italienischen Schnellzüge halten, die so viel besser klimatisiert sind als alles, was die Deutsche Bahn je auf Schienen gehievt hat. Servillo hat nicht das Star-Gesicht eines Marcello Mastroianni, aber für seinen langjährigen Kollaborateur Sorrentino ist er vom selben Wert.

Seit seinem Regiedebüt One Man Up von 2001 kehrt Sorrentino immer wieder zu Servillo zurück und schenkt ihm Spielraum für eine erstaunliche Vielseitigkeit. Gemeinsam drehten sie unter anderem den Polit-Thriller Il Divo - Der Göttliche, die Fellini-Hommage La Grande Bellezza - Die große Schönheit und das Berlusconi-Projekt Loro - Die Verführten. Dass Sorrentino seinen Stammdarsteller nicht in Der junge Papst an die Seite von Jude Law geschmuggelt hat, nehme ich ihm bis heute übel.

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Als Entschädigung darf Toni Servillo in La Grazia den fiktiven italienischen Staatspräsidenten Mariano De Santis spielen, dessen Amtszeit in sechs Monaten endet – und der von den dekadenten Partys anderer Sorrentino-Helden kaum weiter entfernt leben könnte. Kurz vor der Rente steht er vor drei Herausforderungen: ein kontroverses Gesetz zur Sterbehilfe, das der gläubige Katholik unterzeichnen soll (oder eben nicht), und zwei Begnadigungsgesuche. Das eine für einen Mann, der seine an Alzheimer erkrankte Ehefrau getötet hat. Das andere für eine Frau, die ihren gewalttätigen Mann getötet hat.

Folgenreiche Entscheidungen sind das für einen Juristen, dem der leider passende Spitzname "Stahlbeton" nachgeflüstert wird. So flexibel wie Stahlbeton inszeniert Sorrentino den Präsidenten im von Rom abgeschotteten Quirinalspalast. Kerzengerade und verloren steht er in den dunklen Gemächern der Macht. Seine Gedanken gelten der Trauer über die verstorbene Ehefrau. Und auch der Eifersucht über die verstorbene Ehefrau, denn vielleicht hatte sie vor 40 Jahren eine Affäre mit einem anderen Mann.

Der großartige Toni Servillo spielt den in Trauer und Entscheidungsunwillen eingefrorenen Präsidenten angenehm zurückhaltend. Bittsteller, Weggefährten und Juristentochter (Anna Ferzetti) weist er mit einem um Millimeter verzogenen Mundwinkel von sich. Nur beim gelegentlichen Zug an einem Glimmstängel – einer ist ihm pro Tag erlaubt – bricht kurz etwas Gefühlvolles aus seiner stets kontrollierten Mine.

Was vermutlich klingt wie das unterkühlte Porträt eines Machtmenschen, gestaltet sich in den Händen Servillos als verständnisvolles Porträt eines Mannes, der nicht aus seiner Haut kann, was jeden winzigen Geisteswandel umso heroischer erscheinen lässt. Dem Berlusconi-Politzirkus aus Loro und dem gewissenlosen Kalkül aus Il Divo wird in La Grazia ein fast schon bewunderndes Porträt des Fast-Nichts-Tuns gegenübergestellt, das anmutig über dem parteiischen Gerangel im Parlament steht.

La Grazia ist alles andere als perfekt, aber Toni Servillo muss man gesehen und gehört haben

Sorrentino wird auch in diesem Film von seinen eigenen Markenzeichen eingeholt. Ganz oben auf der Liste stehen die marmornen Bilder, hübsch und leblos. Gleich darunter findet sich seine Versenkung in nostalgisch aufgeladenen Frauengeschichten, die die Frauen selbst zu blutleeren Skulpturen überhöhen.

Trotzdem ist La Grazia um Welten erträglicher und berührender als sein letzter Film, der grässliche Lechzer Parthenope mit Gary Oldman in einer Slow Horses-Drehpause. Die Schwere des Staatsamtes wird humoristisch gebrochen, am besten von der spitzzüngigen Kunstkritikerin Coco (Milvia Marigliano), die das Staatsoberhaupt mit wenigen Worten zurechtstutzen kann. Sie injiziert einen Hauch Selbstironie, den der Film dringend braucht.

Ohne Toni Servillo wäre La Grazia allerdings verloren. Der Film kulminiert nämlich in einem wenige Sekunden dauernden Moment an einem Telefon. Da bricht Servillos Stimme bei einem Wort und mein Herz ist gleich mitgebrochen. Vielleicht war Platz 7 also doch zu niedrig angesetzt.

Wir haben La Grazia bei den Filmfestspielen von Venedig gesehen, wo der Film im Wettbewerb läuft. Einen deutschen Kinostart gibt es noch nicht.

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