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Vor 60 Jahren: Geburtsstunde des Lemming-Mythos

12.08.2018 - 00:01 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
"Lasst es wie Selbstmord aussehen!"
Hieronymus Hölzig
"Lasst es wie Selbstmord aussehen!"
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Am 12. August 1958 kam "Weiße Wildnis" in die amerikanischen Kinos. Die Naturdoku zeigt neben Eisbären und Ringelrobben auch todeslüsternde Nagetiere - Womit sie der Ursprung eines bis heute gängigen Irrglaubens ist.

Die 50er Jahre waren für die Walt Disney Company ein denkbar produktives Jahrzehnt. In dieser Zeit öffnete das Disneyland Resort in Anaheim/Kalifornien seine Pforten und fünf Trickfilme aus der eigens so bezeichneten "Meisterwerke"-Reihe, etwa Peter Pan oder Susi & Strolch, begeisterten die Massen. Die 50er sollten aber auch Disneys große Zeit  der True-Life Adventures sein. Hieß: Echte Tiere statt Mickey Mouse. Alles begann 1948, als Walt Disney die Idee des Kameraverkäufers  Alfred Milotte  in die Tat umsetzte und einen Film über die Meeressäuger der Beringstraße produzierte: Die Robbeninsel . Ganze 18 True-Life Adventures, teils kurz, teils lang, mal über die Wunder der Prärie, mal über die Geheimnisse der Steppe , veröffentlichte Disney bis 1960 und jeder Film folgte einem typischen Muster. Ein riesenhafter Pinsel zeichnet zunächst den Ort des animalischen Geschehens auf der Landkarte nach. Dann folgen Tieraufnahmen: entstanden unter scheinbar spektakulär schwierigen Bedingungen an Orten, die man vorher nur aus Büchern kannte. Ein Erzähler interpretiert mit reichlich Pathos kleine Geschichten in die Bilder von Gottesanbeterinnen, Gabelböcken oder Blesshühnern hinein. Synchron zum Sturzflug eines Raubvogels spielt das Orchester ein Harfen-Glissando - Eine Filmmusik-Kompositionstechnik, die nicht zufällig Mickey-Mousing  heißt. Das war natürlich allerlei Kitsch; wo Disney drauf stand, war auch Disney drin. Das Gezeigte jedoch hatte damals Seltenheitswert und Disney damit so etwas wie Deutungshoheit. Ein Umstand, der die Entstehungsgeschichte des umstrittendsten aller True-Life Adventures erklären könnte.

"Mitgerissen von einer unerklärlichen Hysterie"

Am Anfang war das Eis. Zu Beginn von James Algars Weiße Wildnis schwimmen riesige Berge aus gefrorenem Nass durch das Bild. Es ist ein Anblick, der einen kurz in die Haut von Polarforschern wie Amundsen oder Scott versetzt. Bald tauchen die ersten Tiere auf. Walrösser und Eisbären leiten jene "Geschichten von den kältesten Plätzen der nördlichen Hemisphäre" ein. Im weiteren Verlauf begegnen wir Belugawalen, Enten und Vielfraßen. Diese Szenen beeindrucken heute kaum. Viel eher werden sie durch eine einzelne, gut viertelstündige Sequenz in den Hintergrund gedrängt: Das Kapitel der Lemminge. Lemminge, die zu den Wühlmäusen  gehören, sind kleine Geschöpfe aus den arktischen Tundren. Im Film sieht man zunächst ihren Alltag während der besonders kalten Jahreszeit. Tauwetter setzt ein und sie kommen aus den Unterschlüpfen empor, begehen schließlich eine schier kuriose Massenversammlung mit unverschämtem Ausgang. Der übersetzte Originalkommentar  von Sprecher Winston Hibler:

Diese kleinen Tiere werden von einem Wandertrieb ergriffen. Mitgerissen von einer unerklärlichen Hysterie begeben sich alle gemeinsam auf den Marsch, einem seltsamen Schicksal entgegen. [...] Den Grund für ihre Wanderung, die Suche nach Nahrung, haben die Lemminge längst vergessen. Sie sind das Opfer einer fixen Idee und haben nur den einen Gedanken: vorwärts, vorwärts! [...] Vor ihnen liegt die arktische Küste und dahinter das Meer. [...] In ihrer Besessenheit stürzen sie die Klippen hinunter. [...] Und so kommen sie zu dem letzten Abhang. Es ist ihre letzte Chance, umzukehren. Aber nein! Sie stürzen sich ins Leere. Auch diesen Sturz scheinen sie alle zu überleben, denn jetzt fangen sie an zu schwimmen. Seltsamerweise nicht zurück zum Land, sondern vorwärts, weg vom Ufer, dem fernen Horizont entgegen. [...] Niemand ist imstande, den Todesmarsch der Lemminge zu erklären, man kann nur annehmen, dass ihr Instinkt ihnen eine Richtung weist, in der in grauer Vorzeit vielleicht einst ein längst versunkenes, fruchtbares Land lag, dass sie zu erreichen suchen. Allmählich verlassen sie die Kräfte und bald ist das arktische Meer mit kleinen, toten Körpern übersäht. Der Ozean ist ihr Grab geworden.

"Keine Tiere zu Schaden gekommen"

Wie beabsichtigt, fraß das Publikum den Filmemachern bereitwillig aus der Hand. Der Lemming war von nun an jene Tiergattung, die im Abstand einiger Jahre Massensuizide veranstaltet. Ein Glaube, der teilweise bis heute Bestand hat und in der Popkultur Einzug hielt - Obwohl es grober Unfug ist. Regisseur Algar und Konsorten beriefen sich möglicherweise auf eine norwegische Sage, wonach sich skandinavische Lemminge auf der Suche nach dem einst per Landweg erreichbaren Grönland oder gar Atlantis  ins Meer stürzten. Nun zeigte ein Film tatsächlich die in Zeitlupe von der Klippe sausenden Leiber als Beweis tierischer Himmelfahrtskommandos. Doch die Bilder haben etwas Verdächtiges an sich. Die Massenwanderungen vor dem Sturz wirken redundant, die Bildausschnitte eng gewählt. Die Klippensprünge sind dann aus schier perfektem Blickwinkel eingefangen. 1983 deckte Brian Valley in der Sendung The Fifth Estate bei CBC Television den Schwindel schließlich auf. Die "Weiße Wildnis"-Crew um Kameramann James R. Simon  hatte ein paar Dutzend Lemminge  von Inuit-Kindern gekauft, sie im kanadischen Studio auf eine arktisch dekorierte Drehplatte gesetzt und so die Massenströme inszeniert. Kein "Wandertrieb" korrumpierte die Lemminge zum Marschieren, sondern schlicht die wunderbare Welt der Zentrifugalkraft. Um schließlich einen freiwilligen Sprung von der Klippe vorzugaukeln, schubste und warf man die possierlichen Tierchen schonungslos von einer künstlichen Felswand ins Wasser. Naturdokumentationen mit gestellten Szenen  hatte es vorher schon gegeben. Dass Disney einem Tier absurde Charaktereigenschaften  andichtete, war jedoch besonders. Tatsächlich sind Lemminge dafür bekannt, sich alle vier bis fünf Jahre  in drastischer Zahl zu vermehren und dann in riesigen Gruppen zu migrieren. Dabei kann es mitunter zu tödlichem Gedränge kommen. Mit einer Sehnsucht nach dem Sensenlemming hat all das aber nichts zu tun.

https://www.youtube.com/watch?v=YBVPXcIoBh4


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