Nun denn, ich habe es schon wieder getan: ich hab mich bis zum bevorstehenden Finale einer Deutschland sucht den Superstar -Staffel gekämpft, obwohl ich schon vor 2 Jahren öffentlich verkündet habe, es nicht mehr zu tun. So beschissen die auf CD gepressten Ergebnisse der Sieger auch sein mögen, so gut ist auch der Überblick über die Szene junger SängerInnen, die sich im deutschsprachigen Raum so tummeln. Denn neben einigen Pappnasen, findet auch der ein oder andere gute Interpret unter den Massen. Und hin und wieder sogar ein paar maßlos überqualifizierte Musiker, die es aus unerfindlichen Gründen für notwendig erachten, ihre Erfüllung in Shows wie dieser zu suchen. Aber dazu zu späterem Zeitpunkt mehr. Erst einmal etwas Hintergrund, warum ich diesen Artikel verfasse.
Das Thema dieser Staffel war "No Limits". Das ist nicht nur der Titel des vermutlich besten Eurodance-Albums, das die 90er Jahre hergaben, sondern auch die klare Ansage, dass neben dem üblichen Pop- und Soulgesang diesmal auch Klassik, Musical, Rap und ähnliches in der Sendung Platz finden würden, während man Vertreter dieser Genres bislang mit einem "gut, aber nicht das, was wir suchen" abspeiste. Tatsächlich ein Versuch, frischen Wind in die Sache zu bringen, oder nur Kalkül, um zu kaschieren, dass Das Supertalent größeren Unterhaltungswert bietet?
Nun ja, bis in die besten 20 Plätze hinein waren noch Rapper und klassische Sängerinnen dabei. Von zweiterer Branche hab ich so viel Ahnung wie vom Bau eines Springbrunnens, aber ich bin froh, dass die Rapper recht rasch rausgeflogen sind, denn die armen Kerlchen wären durch ihre Teilnahme an einer Castingshow im Rapgame so angreifbar geworden wie Michael Vick auf einem Tierschützertreffen. Dabei wurde neben einigen nicht ganz ernstzunehmenden Partyrappern auch ein wirklich talentiertes, tiefgründiges Conscious Rap-Duo durch den Recall weitergelassen - schied aber sogar noch vor dem letzten vorhandenen schlechten Feel Good-Kay One-Abklatsch aus. Wieso haben es solche Talente nötig, zu einer Show mit solch miesem Ruf zu gehen?
Und mit dieser Frage komme ich auch schon auf den Punkt wie ein Grammatikfetischist. Das Finale von DSDS 2016 steht bevor, und zum ersten Mal in der Geschichte sind weder ein schmachtender Mädchenschwarm noch eine Schlagersängerin dabei. Nein, sondern auf 3 Kandidaten aufgeteilt finden sich die 2 besten Stimmen und die 2 interessantesten Individuen wieder. Laura und Prince (nicht zu verwechseln mit der kürzlich verstorbenen Musiklegende) sind gesangliche Musterschüler und besitzen beide so viele Haken in der Stimme, wie sich in Die Passion Christi an einer Peitsche befestigt in den Rücken des Protagonisten bohrten. Die Niederländerin Laura klingt, als hätten Bonnie Tylers und Miranda Lamberts Stimmbänder ein Kind bekommen, welches aber zusätzlich noch eine ganz eigene, raue, rauchige und rotzige DNA-Mutation durchgemacht hat und nun als Powergöre durch die Show wandelt. Prince wiederum beeindruckt nicht nur durch sein sympathisch-natürliches extravagantes Auftreten, welches ich nur schätzen kann (anders als einigen anderen kaufe ich Prince sogar ab, privat so zu sein), außerdem ist er gesanglich ein (Karma) Chamäleon, welches die unterschiedlichsten Genres mit seiner auch vokalen Genderbender-Attitüde meistert und dabei nichts von seiner Persönlichkeit verliert. Und dann gibt es Thomas. Der Reggae-Lebemann ist musikalisch nicht mein Stil, außerdem ist sein Gesang auch qualitativ nicht so überzeugend wie jener der Mitfinalisten, aber seine "I Don't Give a Fuck, the World can Suck my Cock"-Art imponiert mir und erfrischt unter den ansonsten immer gleichen Archetypen, die die Sendung offeriert.
Normalerweise scheiden alle Kandidaten, die wirklich viel Potenzial für gute Popmusik bieten, spätestens vor dem Halbfinale aus. Diesmal stehen 3 Kandidaten mit Potenzial im Finale - darunter 2, die mich persönlich ansprechen. Doch welche Zukunft haben sie, sollten sie gewinnen?
Laura ist das, was man eine Rockgöre nennt - sie besitzt den Flair einer Avril Lavigne mit einer besonderen, individuellen Stimme. Und gerade, weil sie nicht nach Zahlen singt und eine Vielzahl an Schlenkern und Seufzern einflechtet, drückt sie auch Coverversionen ihren eigenen Stempel auf. Ideal wäre für sie Honky Tonk-Country, Pop-Punk oder Alternative. Um was möchten wir wetten, dass im Falle ihres Sieges auf ihrem eine Woche später folgenden Album 08/15-Popschnulzen mit Schlager-Feeling, angereichert durch ein paar E-Gitarren ihre Stimme untermalen, während Dieter Bohlen versucht, jegliche gesanglichen Ausreißer und persönlichen Noten im Studio auszumerzen, um möglichst klaren Gesang zu bekommen (von seiner künstlerische Hochform, als er die brillante Bonnie Tyler produzierte, spricht er ja selbst eher negativ)? Nach diesem einem Album wäre es mit ihrer Karriere vorbei. Denn wie sich bei der Popstars-Band Nu Pagadi gezeigt hat, verträgt sich die Mischung Rock und Castingshow nicht.
Prince hätte das Zeug, einer der individualistischsten Popsänger Deutschlands zu werden. Aber nicht mit Dieter Bohlen als Drahtzieher hinter seiner Musik. Der wird für ihn billige Dance-Musik oder schnulzige Balladen verfassen - und Prince wird diese auch mit Bravour singen, denn zu dessen Stimme passt so gut wie jeder Stil. Der junge Sänger ist von Grundauf viel zu diplomatisch und kompromissbereit, um sich gegen den Einheitsbrei, den Bohlen uns seit Jahren serviert, durchzusetzen und seine eigenen Visionen zu verwirklichen. Und die hat er durchaus, wie er bereits im Casting bewiesen hat, wo er durch viele schnieke Gimmicks und ein stilvoll androgynes Auftreten auffiel. Leider wird Bohlen Prince in Plastik verpacken und somit jede Chance zunichte machen, dass er sein volles Potenzial ausschöpft. Dennoch halte ich es bei Prince für möglich, dass er sich länger als der durchschnittliche DSDS-Gewinner erfolgreich in den Charts hält, denn sein hipsterhafter Habitus trifft den Zeitgeist - wenngleich ich mir sicher bin, dass Bohlen ihn musikalisch auf ein Minimum reduzieren wird.
Letztlich ist da noch Thomas, bei dem ich mich ehrlich frage, was ihn geritten hat, bei DSDS mitzumachen. Wo Laura und Prince noch im Pop verankert sind, wirkt der Rastafari mit den meterlangen Haaren wie jemand, der Shows wie diese eigentlich verteufeln müsste. Der Kerl ist so sehr auf Anti-Mainstream eingestellt und durch seinen Körper pumpt so viel Musik, welche mit der, die Bohlen produziert, in so vielen Punkten übereinstimmt wie ich mit Alkoholismus, dass es mich nicht überraschen würde, dass er, sollte er tatsächlich gewinnen, auf der Siegerbühne preisgeben würde, dass er nur an dieser Sendung teilgenommen hat, um seinen Lebensstil zu promoten und den Plattenvertrag von Bohlen ablehnen würde - oder aber, um undercover berichten zu können, wie niederträchtig es hinter den Kulissen zugeht. Sollte dies nicht eintreffen und Thomas seine Teilnahme an dem Bewerb tatsächlich ernst gemeint haben, bezweifle ich, dass er langfristigen Erfolg hätte. Selbst die titelgebende Figur aus Tommy würde erkennen, dass die Zusammenarbeit zwischen Bohlen und dem Rasta nicht glücken würde, denn der Typ ist stur und hat eigene Ambitionen. Seine Musik richtet sich dabei aber eher an Kreise, welche Castingshows von Vornherein ablehnen. Somit lehnen sie jedoch auch Thomas selbst ab, dessen "Realness" ab diesem Zeitpunkt sicherlich stark angezweifelt wird.
Was würde ich mir wünschen?
Holländerin Laura sollte es bei britischen oder amerikanischen Castingshows versuchen. Diese bringen unglaubliche Popstars hervor und respektieren deren eigenen Stil. Kelly Clarkson, Adam Lambert und Miranda Lambert sind durch die amerikanischen Sendungen "American Idol" und "Nashville Star" bekannt geworden und ihre Musik besteht zur Gänze daraus, ihre eigenen Vorstellungen zu verwirklichen, wofür sie im Heimatland zumeist durchwegs positive Kritiken erhalten (5 Sterne bei Allmusic, Listung auf den 500 besten Songs aller Zeiten bei Rolling Stone, Teilzeitmitglied von Queen,...).
Prince sehe ich eher als YouTube-Star als auf der großen Bühne. Er sollte sich mit seinem Freund gemeinsam an den Schreibtisch setzen und sich seine eigene Musik zusammenschreiben und hoffen, den noch nicht abgeebbten Hype um DSDS 2016 für sich nutzen zu können, um mit Musik über die Runden zu kommen und auf deutlich positivere Resonanz zu stoßen als er es als Bohlen-Schützling würde.
Thomas ist ein klassischer Independent-Künstler, der auch auf anderem Wege sicherlich früher oder später einen Plattenvertrag bekommen hätte. Leider ist seine Zukunft die einzige, die ich durch die Teilnahme an der Bohlen-Show selbst im Falle des Verlierens massiv gefährdet sehe. Denn wo sich Laura und Prince noch von dem Image als Castingstars abspalten könnten, befindet sich Rapunzel Reloaded so weit außerhalb seiner Szene, dass man es ihm schon als Verrat ankreiden könnte. Allerdings könnte er als Teil einer Band oder Gruppe noch etwas von seinem Ruf retten, wenn die anderen Mitglieder charismatisch sind und die Musik gut genug ist.
Fazit: mir tut es weh, zu sehen, dass es da draußen so talentierte SängerInnen gibt, die nicht nur technisch überzeugen, sondern vor Widererkennungswert nur so strotzen, sich aber durch ihre Teilnahme an Castingshows jegliche Möglichkeit, ernsthaft im Musikbusiness Fuß zu fassen, nehmen. Alle 3 Finalisten von DSDS 2016 sind viel zu groß für diese Sendung oder Dieter Bohlen. Mit Beatrice Egli hat der selbsternannte Poptitan doch ohnehin die ideale Interpretin gefunden - warum Leute wie Laura, Prince und Thomas nicht an ausländische Kollegen weitervermitteln? Dort würden sie weitaus größere Erfolge feiern, und Bohlen könnte, wenn er sich Rechte und Prozente sichern würde, mehr Geld abschöpfen, als er es bei einem einzigen mehr oder minder solide erfolgreichen Albums des Gewinners tun würde. Aber offenbar muss einer dieser 3 jungen ambitionierten Künstler rituell geopfert werden, damit ich mir nächstes Jahr die nächste Suche nach neuen Talenten ansehen und mich wieder aufs Neue aufregen kann.