Was steckt hinter der Telltale-Formel?

17.07.2015 - 18:00 Uhr
The Walking Dead
Telltale Games
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Regelmäßig werden die Telltale-Spiele für ein besonderes Phänomen kritisiert: die Telltale-Formel. Mittlerweile ist dieser Begriff zum Synonym für durchschaubares Spieldesign geworden. Doch was steckt wirklich hinter dem Begriff?

In der ersten Staffel von Telltales The Walking Dead erlebte ich einen dramatischen Schlüsselmoment: Lee, in dessen Haut ich die Zombie-Apokalypse zu überleben versuchte, rettete sich in die vermeintliche Sicherheit einer Farm, während die Welt um ihn herum ihn untotes Chaos versank. Als doch schließlich Zombies das Grundstück angegriffen, musste ich mich in einer Zeitlupen-Sequenz entscheiden: Rette ich den Sohn des Farmers oder das Kind von Kenny, einem meiner ersten Begleiter und Freunde?


Die Entscheidung war eine Qual und der Zeitdruck strapazierte meine Nerven: In Sekundenbruchteilen versuchte ich, das Für und Wider meiner Möglichkeiten abzuschätzen und rettete schließlich den Sohn von Kenny — der Sohn des Farmers hingegen musste sterben. Ich erfuhr erst Tage später im Gespräch mit einem Freund, dass er sich für die andere Möglichkeit entschieden hatte und er dennoch die gleichen Szenen erlebte, wie ich: Kennys Sohn überlebte, während das Kind des Farmers in die Hände der Zombies geriet.

Die Telltale-Formel

Als er mir von dieser überraschenden Übereinstimmung erzählte, fühlte ich mich um die Bedeutung meiner selbst getroffenen Entscheidung betrogen: Telltales Versprechen zu Beginn jeder Episode wurde in meinen Augen von den Entwicklern gebrochen — und offensichtlich ging es nicht nur mir so: Seit 2012 und Telltales The Walking Dead wurde dieses Problem von Kritikern wie auch den Spielern selbst immer wieder negativ hervorgehoben. In dieser Zeit wurde dann schließlich auch eine Bezeichnung erfunden, die als feststehender Begriff unsere Gespräche bis heute prägt: Die Telltale-Formel.

Doch was ist die Telltale-Formel eigentlich, mit der Fachpresse und ihre Leser immer wieder argumentieren, wenn es um die Spiele von Telltale Games geht?

Es gibt für diese Bezeichnung keinen Eintrag im Duden oder sonstwo eine feststehende Definition, auf die wir uns beziehen könnten und so durchforstete ich alle Tests und Blog-Einträge über die Telltale-Spiele, die ich finden konnte um zu ergründen, was das virtuelle Kollektiv unter dem prägnanten Begriff versteht. Mit überwältigender Mehrheit und fast ohne Ausnahme ergibt sich nach meiner Recherche eine Definition für die Telltale-Formel, die in etwa so lauten könnte:

Die Telltale-Formel umschreibt das Wechselspiel zwischen von uns getroffenen Entscheidungen im Spiel und die damit verbundenen Auswirkungen im Spielverlauf.

Mit anderen Worten: Wir nehmen an, dass unsere Entscheidungen die Geschichte maßgeblich beeinflussen und deren Ende mitformen. Die Knotenpunkte für dieses allmähliche Basteln des eigenen Abenteuers sind die Gespräche und Zeitlupen-Sequenzen, wie ich sie eingangs beschrieben habe.

Ein großes Missverständnis

Zwangsläufig wurden viele Spieler mit dieser Definition im Hinterkopf immer und immer wieder enttäuscht: Früher oder später wurden Erzählstränge wieder zusammengeführt, bestimmte Schlüsselmomente passierten unabhängig von unseren Entscheidungen und wir bekamen Spiel um Spiel das Gefühl, Telltale durchschauen zu können. Die Telltale-Formel entwickelte einen negativen Beigeschmack von Einfallslosigkeit und falschen Versprechen, obwohl diese Erkenntnis unabwendbar ist.

Der eigentliche Kern der Telltale-Spiele: Entscheidungen.


Es grenzt an schieren Wahnsinn, für jede mögliche Entscheidung des Spielers in den zahlreichen Dialogen eine neue Geschichte zu entwerfen, die unsere Handlungsweise glaubwürdig fortführt. Doch wieso weist uns dann vor jedem Spielanfang ein Hinweisbildschirm auf die Folgen unserer Taten hin?

In einem Interview mit Rock, Paper, Shotgun von 2013  antwortete Telltales Präsident Kevin Bruner etwas sehr spannendes, als er gefragt wurde, was das größte Wagnis beim Entwickeln von The Walking Dead war:

Ziemlich schnell und nach einigen Experimenten merkten wir: Dieses Spiel soll sich um die Entscheidungen des Spielers drehen. Darauf werden wir zu Spielbeginn hinweisen. (...) Könnt ihr dieses Spiel gewinnen oder verlieren? Nein. Meine Spielweise entscheidet über den Ausgang der Geschichte? Nein. Dieses von uns gebastelte Prinzip machte uns sehr nervös. Wir wussten nicht, wie diese Idee ankommen würde. (...) Die ganze Zeit dachten wir uns eigentlich nur: 'Sind wir wirklich so verrückt, dass wir glauben, wir können ein zweistündiges Spiel machen, das dir vorschwindelt, deine Entscheidungen seien bedeutungsvoll, aber im Grunde doch nichts großartig ändern?' Jeder von uns wird am gleichen Punkt starten und enden.

Dieser Gesprächsausschnitt zeigt deutlich, dass die Entwickler von Beginn an niemals die absolute und bedeutungsvolle Entscheidungsfreiheit angestrebt haben, für deren Mangel sie regelmäßig kritisiert werden. Der Reiz der Telltale-Spiele liegt in den Momenten, in denen wir uns entscheiden müssen — nicht in der Illusion, ein ganz eigenes, persönliches Abenteuer schneidern zu können. Der Hinweisbild zu Spielbeginn sowie der immer wieder auftauchende Satz "Charakter XY wird dies nicht vergessen" gibt uns ein Gefühl für die Schwere der Momente, in denen wir Entscheidungen treffen müssen.

Unsere Entscheidung wird nicht vergessen.


Um uns selbst den Spielspaß an Telltales Geschichten zu erhalten, sollten wir in Zukunft davon absehen, den Begriff "Telltale-Formel" zu nutzen. Über die letzten drei Jahre hinweg stellte diese Terminologie die Entwickler wiederholt an den Pranger und übersah die Themen, um die es in diesen Spielen eigentlich geht: Empathie.

Glaubwürdige Charaktere, die uns ans Herz wachsen, sich gegen uns stellen oder früher oder später beides tun werden: Sie sollten auch in Zukunft wieder der Grund sein, warum wir über diese Abenteuer sprechen — nicht aber das Auflegen einer formelhaften Schablone, die uns unweigerlich in die sieben Höllenkreise des klagenden Fazit-Textes oder Beschwerde-Kommentars führen wird. Worte stecken voller Möglichkeiten — auf diese sollten wir zugunsten massiver, unflexibler Begriffsblöcke nicht freiwillig verzichten.

R.I.P. Telltale-Formel (2012 - 2015)

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