Wie Streaming die Diskussion über Filme & Serien erschwert

20.09.2017 - 09:23 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Kate Mara als Journalistin Zoe Barnes in der Netflix-Serie House of Cards
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Kate Mara als Journalistin Zoe Barnes in der Netflix-Serie House of Cards
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Streaming-Dienste schließen mit ihrer Art der Ausschüttung von Serien und Filmen die Berichterstattung aus. Das schadet der Diskussion, den Streaming-Produkten und selbst den Filmen und Serien.

Früher war die kritische Haltung dem Fern-sehen schon inbegriffen. Einem Gegenstand, der uns vorgesetzt wird, begegnen wir per se mit Skepsis, vielleicht auch mit pauschaler Ablehnung. Das Prä-Streaming Fernsehen war wie ein Bonbon, der dir von einem fremden Menschen auf der Straße angeboten wird: Du drehst und wendest ihn, untersuchst ihn auf Fehler und mögliche Gefahren. Der, der nun nur noch streamt, hat sich von der Passivität des generalisierenden Jedermann-TV-Programm gelöst und wurde zum individuellen Fernschauer. Dieser prüft sein Fernsehen schon bevor er den Schau-Aufwand überhaupt wagt. Die Verantwortung über die Pflege des persönlichen TV-Kulturprogramms obliegt ihm selbst. Die passive Kritik am übermächtigen, da vollkommen störrischen, kritikunfähigen linearen Fernsehen entfällt bei einer autarken Vorauswahl, die uns mit dem Streaming offen steht - mehr oder weniger.

Mehr, da die Qualität des Streaming-Programms hängt von der eigenständigen Kombination durch den Zuschauer ab. Verfügbarkeit ist nicht mehr das Problem, es geht alleine um die Selektion. Mehr, da die Inhalte für dich, scheinbar allein für dich gemacht sind. Mehr, da bei Amazon eine Zuschauermasse ihre Serien-Auswahl von vorneherein selbst kuratiert, Serien-Piloten vorgesiebt werden, Unerwünschtes (= Schlechtes?) gar nicht erst zu Ende produziert wird.

Weniger, da bei Netflix Algorithmen über die persönliche Kanonisierung von Inhalten entscheiden. Formeln bestimmen, was für den Streamer sichtbar ist. Weniger, da eben doch längst nicht alles beim Streaming-Dienst vorhanden ist, der Zuschauer nicht aus dem Ozean der Filmkultur, sondern mehr aus einem Swimming Pool schöpft. Weniger, da viele Serien und Filme gar nicht erst wahrgenommen werden, viele Serien sogar wieder verschwinden, da sie nicht geschaut werden, sie nicht besprochen werden, nicht kritisiert werden, nicht diskutiert werden können, in keinen gesellschaftlichen Kommunikations- und Verarbeitungsprozess eintreten. Sie keine Kultur werden.

Wo steht der Journalismus im individualisierenden Unterhaltungsgewerbe?
Streaming bewirkt, dass Film- und Serienschauen zum solipsistischen, einsamen Ereignis wird. Am 3. Februar 2013 spielten in New Orleans die Baltimore Ravens und die San Francisco 49ers gegeneinander. Es war Super Bowl-Wochenende in den USA, die Tage, in denen sich vom Wall Street-Broker bis zum Friseur jeder Amerikaner für nichts außer Football und die richtige Chickenwing-Sauce interessiert. Genau an diesem Wochenende platzierte Netflix die erste Staffel House of Cards, komplett, alle 13 Folgen gleichzeitig, wow. Das mediale Interesse für die Serie war Netflix vor deren Veröffentlichung gewiss: House of Cards war die erste ausdrückliche Eigenproduktion eines Streaming-Dienstes überhaupt, Kevin Spacey spielte die Hauptrolle, David Fincher führte Regie bei den ersten Folgen. Um die gemeinsame Nachbesprechung der Serie, das Teilen der Eindrücke in Internetforen, scherte sich Netflix bei der Terminierung des Meilensteins der Seriengeschichte nicht. Die Scheinwerfer der Berichterstattung lagen woanders, die Aufmerksamkeit des Publikums auch. Das geballte Interesse strahlte an diesem Wochenende auf den Super Bowl.

Den Höhepunkt seiner Aufmerksamkeitskurve erreichte House of Cards im Moment seiner Veröffentlichung. Und so geht es seither fast jeder Netflix-Serie und jedem Netflix-Film. Die Serien werden für sich geschaut, unberührt von den Winden der Kritik, der Interpretation und des kulturellen Diskurses.
That is Internet TV (Reed Hastings, via Business Insider)

Es ist eigentlich ganz einfach: Je mehr die Streaming-Dienste ihren Service an den einzelnen Nutzer anpassen, desto schwerer fällt es uns, ihn mit Artikeln zu erreichen. Den Takt gibt nicht mehr der Sender vor, sondern der Adressat. Und der ist eigenwillig. Wir als Plattform des Austausches können uns nicht dem Rhythmus tausender Zuschauer anschmiegen, die ihre Serie zu jeder Tages- und Nachtzeit schauen, manche alle Episoden auf einmal, andere über Monate und Jahre hinweg. Eine Serie wie Black Mirror gemeinsam mit euch in Recaps zu besprechen, wie wir das mit linear ausgestrahlten Serien wie The Walking Dead und Game of Thrones tun, ist bei einem Netflix-Launch kompliziert. Denn jeder schaut die Folgen zu einer anderen Zeit, nie ist jemand auf dem selben Wissensstand, der eine fruchtbare Diskussion ermöglichen würde. Ein Austausch kommt, zumindest im Internet, dem am besten geeigneten Ort für kulturellen Austausch, nicht zustande.

Black Mirror

Eine Serie kann an gebündelter und langfristiger Aufmerksamkeit wachsen. Und sie profitiert von einer professionellen, geschulten Besprechung. Ein Algorithmus ist ultimativ voreingenommen, abschätzig gegenüber allem, was nicht in seine Wenn-Dann-Rechnung passt. Der Journalist jedoch verfügt über die Zeit, Schönes und Großes in etwas zu entdecken, das seinen Wert zunächst verbirgt. Das Beurteilungsnetz eines Journalisten ist durchlässig, es hasst, entdeckt und liebt. Bei moviepilot stellen wir die Möglichkeit zur gebündelten Aufmerksamkeit bereit, denn wir leben vom Diskurs, vom Eingriff, vom Kommentar, vom gemeinsamen Erleben und Ausdiskutieren des Erlebten, dem Bewerten und Einordnen.

Presse-Events, die Fan-Veranstaltungen gleichen
Die großen Streaming-Dienste, allen voran Netflix, wollen dennoch sicher gehen, dass über ihre Serien und Filme - möglichst ausgiebig - berichtet wird. Oft ersetzen dabei in aufwendigen Junkets vergebene Interviews ganze Werbekampagnen. Diese Junkets sehen eher aus wie Fan-Conventions denn wie Presseveranstaltungen. Es gibt den ganzen Tag Kaffee und Croissants, ein Mittagessen mit vegetarischer Alternative, Journalisten sitzen auf weichen IKEA-Sofas vor durchchoreographierten Panels, bei denen die Gespräche locker sind und nie etwas schief geht. Der deutsche Anbieter Maxdome imitierte dieses Vorgehen bei seiner Vorstellung von Jerks, der ersten für eine Streaming-Auswertung gefertigten deutschen Serie. Der Bericht über eine Serie wird so ermöglicht, während die kritische Auseinandersetzung mit der Serie im Zusammenspiel mit dem Zuschauer erdrückt wird.

Tote Mädchen lügen nicht

Wenn Netflix-Junkets nicht die Objektivität korrumpieren, so doch wenigstens die Balance in der Berichterstattung. Eine Netflix-Serie erhält Aufmerksamkeit im Vorfeld ihrer Veröffentlichung durch bereitgestellte Interviews. Direkt beworben hingegen werden sie von Netflix kaum. Eine Serie wie Tote Mädchen lügen nicht, die im Frühling im Internet aufploppte, wurde vor allem durch einen empört aufgenommenen Tabubruch ins Auge des täglichen Neuigkeitensturms befördert. Auch Stranger Things wurde im Vorfeld eher zurückhaltend beworben. Es existierte gefühlt nicht, bis es bei Netflix existierte, und leicht wieder hätte versinken können. Netflix setzt immer mehr Serien ab, darunter fallen neben schlicht zu teuren Serien auch solche, die in der wöchentlichen Welle einfach untergingen, nicht beachtet wurden. Von euch nicht und auch von uns nicht. Eine adäquate, dem Gegenstand gerechte Abdeckung ist in der Frequenz nicht möglich. Serien werden in Doppelpacks auf den Markt gestreut in der Hoffnung auf einen (seltenen) Glückstreffer. Netflix verlässt sich auf den Zufall. Die Serie selbst verliert dabei an Wert, sie ist, bei Misserfolg, nicht mehr als eine Karteileiche im Investitionsportfolio eines Konzerns.

Die plötzliche Macht der Streaming-Dienste
Filme und Serien werden vom Erzeuger unmittelbar weitergereicht an den Kunden. Das klingt zunächst großartig, sicher. Aber Filme und Serien sind im besten Fall Kunsterzeugnisse, keine Produkte. Moderne Streaming-Serien sind etwas für einen bestimmten Kunden Hergestelltes. Echte Kunst aber sollte sowieso keinen bestimmten Adressaten habe, auf den sie sich einstellt. Streaming programmiert nun zusätzlich den Geschmackscode ins Unterhaltungsgewerbe. Den Filmen und Serien ist das bisher nicht anzumerken.

Amazon und Netflix aber prägen eine kunstentfremdende Auffassung von Serien und Filmen als Kulturartikel nachdrücklich. Beide sind, urplötzlich, zu den wohl mächtigsten Playern auf dem TV- und Filmmarkt aufgestiegen. Sie können mit Ressourcen und Marktinstrumenten planen, die selbst traditionellen Networks fremd sind . Ihre größte Ressource ist die Zukunft, die den Streaming-Diensten gehört und nicht den Fernsehsendern. Die Infrastruktur, die Amazon und Netflix schon lange haben, bauen CBS, Sky und HBO gerade erst aus. Amazon und Netflix haben einen Vorsprung, der nur langsam schmelzen wird.

Entertainment wird so zunehmend zum Überflussartikel und gleichzeitig zu einem wichtigen Marketing-Hebel großer Tech-Unternehmen. Facebook und Apple gehen mit ihren geplanten Serienproduktion den Weg des Interneteinzelhändlers Amazon, der eben nicht nur Entertainment, sondern auch Chipstüten, Handcreme und Wurfzelte verkauft. Das Streaming-Zeitalter braucht einen Journalismus, der das beobachtet. Unbedingt.

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