Die Tragik der kurzen Lebensdauer von Netflix-Filmen

15.09.2017 - 08:50 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Ereilt Mudbound die gleiche Tragik wie die meisten Netflix-Filme?Netflix
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Netflix ist längst nicht mehr nur auf die Produktion von Serien fokussiert, sondern baut sich ein beachtliches Repertoire an Filmen auf. Trotzdem wird die Hälfte dieser nie die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen.

Wusstet ihr, dass heute der neue Film von Angelina Jolie auf Netflix startet? Oder wusstet ihr überhaupt, dass Angelina Jolie das letzte Jahr mit der Verfilmung von Loung Ungs autobiografischen Roman Der weite Weg der Hoffnung beschäftigt war, der sich mit dem Schreckensregime der Roten Khmer im Kambodscha auseinandersetzt? Vermutlich nicht, denn obwohl der Film erst vor ein paar Tagen in Telluride und Toronto einem größeren Publikum vorgestellt wurde, droht das Drama, in den unendlichen Weiten des Netflix-Katalogs zu verschwinden, bevor es überhaupt dort aufgenommen wurde. Der weite Weg der Hoffnung bildet dabei trotz großer Namen und relevanter Thematik leider keine Ausnahme, sondern bestätigt einmal mehr den Mythos des Netflix-Originals, das sich nach einem kurzen Peak der Aufmerksamkeit in die Untiefen des Netflix-Archivs verabschiedet.

Netflix dropped Filme ohne Aufprall
Rund 30 Filme hat Netflix dieses Jahr bereits unter dem Original-Label herausgebracht, darunter befinden sich klassische Eigenproduktionen sowie Festival-Einkäufe, die zahlreichen Dokumentationen und Specials nicht mitgerechnet. Alleine an Spielfilmen kann Netflix Ende des Jahres also mindestens doppelt so viele Premieren verzeichnen wie noch 2016. Eine bemerkenswerte Steigerung, die ebenfalls eine erhöhte Veröffentlichungsfrequenz mit sich bringt, bei der selbst ein etabliertes Studios wie Warner Bros. kaum noch mithalten kann. Dennoch herrscht ein großes Ungleichgewicht zwischen den Filmen, die dieses Jahr exklusiv auf Netflix erschienen sind und jenen, die den Sprung auf die große Leinwand schaffen: Wenngleich Netflix seinen Filmen die wohl denkbar größte wie unmittelbarste Plattform gewährt, gehen sie in Angesicht der Masse an Parallelveröffentlichungen unter.

So romantisch die Vorstellung sein mag, dass Netflix Filme dropped, wie ein Musiker ein neues Album aus dem Nichts hervorzaubert, offenbart sich der Einschlag in den meisten Fällen als kaum wahrnehmbares Ereignis, da gleichzeitig ein Stand-up-Special, eine prestigeträchtige Doku und die neue Staffel einer eigenproduzierten Serie veröffentlicht werden - von denn täglichen Updates an lizenzierter Film- und Serienware ganz zu schweigen. Netflix überhäuft seine Nutzer geradezu Content, schafft es aber nicht, adäquat zu highlighten und den nicht abbrechenden Strom an Neuerscheinungen ordentlich zu filtern. Selbst ein persönlicher Algorithmus, basierend auf Daumen-Bewertungen und Geschmacksübereinstimmungen, ist dem Chaos nicht gewachsen. Wer keine Zeit und Geduld mitbringt, wird nie die verborgenen Schätze im Katalog entdecken.

Der weite Weg der Hoffnung

Doch was bedeutet dieser Prozess der Kurzlebigkeit, der bei Netflix an der Tagesordnung ist? Ist er eine Gefahr für die Filme und deren Macher? Oder leiden nur wir Nutzer darunter? Viele Fragen gehen mit der Veröffentlichungspolitik von Netflix einher, angefangen bei ganz praktischen Überlegungen hinsichtlich unverhohlenen Alibi-Kino-Auswertung, um sich später für etwaige Oscar-Nominierungen zu qualifizieren. Wenn Ted Sarandos und Reed Hastings über die Zukunft von Netflix sprechen, scheint es ihnen regelrecht Spaß zu machen, die Konventionen des Filmgeschäfts aufzuwirbeln und durcheinander zu bringen. Netflix birgt wahrlich das Potential für frischen Wind in der Industrie und scheut (zumindest bisher) keine Kosten und Mühen, um die Filmschaffenden zu unterstützen. Allerdings fällt ebenso auf, dass sich Netflix immer noch deutlich besser beim Einkauf als bei Verkauf präsentiert.

Vom tragischen Happy End eines Netflix-Kaufs
Als jüngstes Beispiel hierfür fungiert Mudbound, ein episches Drama, das ins Mississippi Delta der 1940er Jahre entführt und sich um brisante Themen wie Rassismus und Armut dreht. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen zwei gegensätzliche Familien, die in einer Ur-amerikanischen Geschichte verbunden werden - ein perfekter Oscar-Kandidat, könnte behauptet werden. Trotzdem ließ sich der Film nach seiner Premiere in Sundance dieses Jahr nur schwer verkaufen, was laut Regisseurin Dee Rees unter anderen daran liegt, dass sich ein Jahr zuvor der ähnlich veranlagte und ebenso verheißungsvolle Birth of a Nation nach Vergewaltigungsvorwürfen gegen Regisseur und Hauptdarsteller Nate Parker als absoluter Albtraum für Fox Searchlight herausstellte. Weitere Hintergründe dazu hat die Variety in einem umfangreichen Bericht zusammengefasst .

Der Punkt ist, dass sich trotz positiver Resonanz kein Käufer mit einem angemessenen Angebot für Mudbound finden wollte, ehe Netflix ein Angebot gemacht hat - und zwar keines, das ein gezwungenes Schnäppchen auf den letzten Drücker war, sondern ein faires, das alle Beteiligten zufrieden stimmte und dem befürchteten Verlustgeschäft für die verkaufende Partei entsagte. Ein Happy End nach einer anstrengenden Festival-Woche, bei der sich Netflix als Retter in der Not erwies und das Projekt einer ambitionierte Filmemacherin förderte, die sich fortan in den Reigen von Regie-Kollegen wie Duncan Jones, Jeremy Saulnier, Ritesh Betra, Gareth Evans und Drake Doremus reihen kann, deren neue Filme auf Netflix ihre Premiere feiern werden. Dennoch ist besagtes Happy End nur von kurzer Dauer, da Mudbound trotz finanzieller Absicherung auf eine ungewisse Zukunft zusteuert.

Bright

Rückblickend auf vergleichbare Veröffentlichungen lässt sich schwer abschätzen, ob Mudbound von einem ähnlichen (Festival-)Buzz wie Okja zehren kann oder genauso so schnell in der Versenkung verschwindet wie War Machine, der neue Film mit Brad Pitt. Es ist unfassbar schwer für einen Netflix-Film, an der Wasseroberfläche zu bleiben und nicht unterzugehen - und das, obwohl ihn jener Abonnent des VoD-Dienstes problemlos sehen könnte. Die Betonung liegt auf könnte, denn selbst wenn das Argument gerne bemüht wird, dass Netflix gegenüber Kinos den Vorteil hat, nicht auf lokale und räumliche Voraussetzungen angewiesen zu sein, ist immer noch ein Netflix-Abo erforderlich, um Ende des Jahres das Fantasy-Action-Spektakel Bright mit Hollywood-Star Will Smith und später auch The Irishman von Kino-Magier Martin Scorsese zu sehen.

Das zweischneidige Netflix-Erfahrung
Netflix vereint mindestens genauso viele Vor- und Nachteile für die Filmemacher und uns Zuschauer, wie es Filme und Serien an einem Wochenende in die Welt des Internets loslässt. Dabei geht es um die Ideale des Kinos und die Realität der sich wandelnden Filmlandschaft, die gleichermaßen für Entzücken und Erschrecken sorgt. David Ehrlich umschrieb dieses zweischneidige Netflix-Erfahrung vor ein paar Monaten als "graveyard with unlimited viewing hours " und lag damit vielleicht gar nicht so weit daneben. Wenngleich Ausnahmen wie der bereits erwähnte Glücksfall Okja die Regel bestätigen, hortet Netflix aktuell überwiegend ungenutztes Potential und vergisst, in die Lebensdauer seiner Filme zu investieren. Wenn bei Serien inzwischen sogar die Option besteht, das Intro zu überspringen, sollte diese Entwicklung sehr zu denken geben, da sie ausschließlich den Konsum in den Vordergrund stellt.

So vorbildlich Netflix in mancher Hinsicht handeln, so schockierend sind die offensichtlichen Entscheidungen, den Film trotz Integration des Künstlers seiner künstlerischen Ader zu berauben und als automatisiert abgestimmtes Content Piece zu präsentieren, das in erster Linie eine Zielgruppe befriedigen und langfristig binden soll, ohne selbst ein solch nachhaltiges Leben zu besitzen. Netflix scharrt Talent en masse um sich, will diesem Talent aber nicht mehr als eine Plattform bieten, die in nicht allzu ferner Zukunft womöglich sogar anbietet, entsprechende Filme in angepassten Versionen zu präsentieren. Sprich: Wenn wir jetzt schon Serien-Intros skippen können, dürften die vermeintlich langweiligen Dialogpassagen im nächsten Action-Thriller nur eine Frage der Zeit sein - als wären wir Zuhause auf der Couch nicht schon genug von der Verführung des Second Screen abgelenkt. Diesen lieblosen Umgang hat kein Film der Welt verdient.

Welche Erfahrungen habt ihr bisher mit Netflix-Filmen gesammelt?

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