Ryan Gosling blickt zum Meer. Grimmig, voll Ehrfurcht vor dem großen Abenteuer - oder den Kabinenmieten der privaten Strände, die den Besucher auf dem Weg zum Festivalzentrum von Venedig begleiten. Neben den Postern für Aufbruch zum Mond, der das Festival heute Abend eröffnen wird, führt der Gang vorbei an Strandbädern und Tennisclubs. Wer schlaftrunken die Kinos übersieht, stolpert geradewegs in einen Golfplatz. Der Ehrgeiz von Raumfahrer Gosling, Tänzerin Dakota Johnson in Suspiria oder Sängerin Natalie Portman in Vox Lux will erstmal nicht passen auf die zur Muße einladende Sandbank in der Lagune. Vielleicht ist es kein Grimm im Blick des Hollywood-Astronauten, sondern Wehmut. Ab heute muss die Sonne draußen bleiben, denn Venedig 2018 fährt ein Programm auf, das einen die Flucht in die dunkle Höhle Kino mit Freuden antreten lässt. Wenigstens bis zum ersten filmischen Reinfall.
Sechs Netflix-Filme im Programm von Venedig
Ausgehend von der Phalanx an Filmpostern besteht das Programm des diesjährigen Festivals ausschließlich aus dem Mondfahrer-Abenteuer von Damien Chazelle (La La Land) und Netflix-Filmen. Da lädt das sonnige Hellgrau von Alfonso Cuaróns Roma zum Träumen ein, deuten sechs Pfade auf die Anthologiegeschichten des Coen Brüder-Westerns The Ballad of Buster Scruggs hin, und neben den Augen von John Huston wird mit The Other Side of the Wind "ein neuer Film des legendären Regisseurs Orson Welles" angekündigt (dankenswerterweise kein "visionär"). Ein bitteres "Welcome" ist auf dem simplen Poster für 22 July zu lesen. Würde nicht der Hubschrauber über der Anlegestelle fliegen, sähe die Insel idyllisch aus. Es ist der zweite Film dieses Jahr, der die rechtsradikalen Anschläge in Oslo und auf der Insel Utøya 2011 dramatisiert. Nach der norwegischen Produktion Utøya 22. Juli legt Paul Greengrass seine Version des Grauens vor. Aussagekräftiger als das Welcome, der Hubschrauber und der Wald auf dem Poster: Captain Phillips, Das Bourne Ultimatum und United 93 (als letztes in der Aufzählung, kein Zufall). Mit diesem Seriösitäts-Tripel wird der Regisseur angekündigt. Man möchte den Staub von den Lettern pusten.
Was in Cannes dieses Jahr fehlte, wird mit den Postern auch dem letzten Besucher der Filmfestspiele von Venedig ausbuchstabiert. Netflix macht Filme, ist relevant, und Venedig durch die offenen Arme für den Streaming-Anbieter im Umkehrschluss ebenfalls. Überhaupt prägt das englischsprachige Kino das diesjährige Programm, was bei den großen Festivals häufig (und unsinnigerweise) als Gradmesser für die (da ist sie wieder) Relevanz genommen wird. Der Italiener Roberto Minervini (The Other Side) dreht vorwiegend in den ärmlichen Gebieten der Staaten, so auch seinen neuen Film What You Gonna Do When the World's on Fire? über eine Reihe von Morden an Afroamerikanern im Süden der USA. Jacques Audiard, der für Dheepan die Goldene Palme in Cannes gewonnen hat, gibt sein englischsprachiges Debüt mit dem Western The Sisters Brothers. Rick Alverson (Entertainment) wendet seinen staubtrockenen Anti-Humor in The Mountain auf einen Doktor (Jeff Goldblum) an, der in den 50ern mit seinem Lehrling (Tye Sheridan) Lobotomien durchführt. Willem Dafoe wiederum gesellt sich zu den Künstlern im Wettbewerb. Für Julian Schnabels At Eternity's Gate gibt er Vincent Van Gogh (Oscar Isaac spielt Gauguin).
Deutschland ist mit Werk ohne Autor auch in Venedig vertreten
Fast schon Ausnahmen im Wettbewerb bilden Olivier Assayas mit seiner E-Book-Komödie Non-Fiction, der Ungar László Nemes, der nach seinem Plansequenz-Horror Son of Saul mit Sunset seinen Zweitling vorlegt, der japanische Kultregisseur Shin'ya Tsukamoto (Killing), der hier zuletzt den Kriegsfilm Fires on the Plain vorstellte, und der Mexikaner Carlos Reygadas. Dessen teuflisch angehauchte Familienbeobachtung Post Tenebras Lux sammelte in Cannes Buhrufe (ein gutes Zeichen). Venedig hat den Ruf, gnädiger zu sein.
Aus Deutschland reist Florian Henckel von Donnersmarck an, dessen Assoziation mit Venedig mindestens bis zu seinem Hollywood-Einstand und -Ausstand The Tourist zurückreicht. Werk ohne Autor verfremdet die wahre Familiengeschichte von Maler Gerhard Richter und setzt die Ermordung von dessen Tante durch die Nationalsozialisten mit der Entwicklung seines Stils in Verbindung. 188 Minuten nimmt diese Geschichte in Anspruch. Das sei nebenbei bemerkt.
Was die Jury um Guillermo del Toro, Sylvia Chang, Naomi Watts und Christoph Waltz dieses Jahr kaum sehen wird: Filme, die von Frauen inszeniert wurden. Nur eine Regisseurin geht in den Wettbewerb, Jennifer Kent (Der Babadook) mit ihrer australischen Rachegeschichte The Nightingale. Vielleicht ist es doch Grimm in den Augen von Ryan Gosling.