Hannibal ist noch nicht einmal bei der Hälfte der dritten Staffel angekommen, doch irgendwie fühlt sich mittlerweile jede Episode wie ein kleines Staffelfinale an. Dolce geht diese Woche noch einen Schritt weiter und lässt dem Wahnsinn aller Figuren freien Lauf, doch der wahnsinnigste von allen bleibt wohl Bryan Fuller, denn auch nach dieser Episode gibt es nur eine Frage, die wirklich wichtig ist: Wie zur Hölle ist das ins US-amerikanische Kabelfernsehen gekommen? Nach Selbstverzehr, Oralverkehr-Witzen und überhaupt exzessiven Gewaltdarstellungen kommen jetzt auch lesbischer Sex und eine Frau, die das Sperma ihres Bruders klauen will, bevor er ins Gefängnis kommt, auf die lange Liste der Dinge, die sich Hannibal erlauben darf.
Dolce fühlt sich vor allem deshalb wie das letzte Drittel der Staffel an, weil die Luft für Hannibal in einem rasanten Tempo immer dünner wird. Waren die ersten drei Folgen noch die größtmögliche Entschleunigung, passiert hier unheimlich viel, ohne den prätentiösen Einfluss, der diese Serie so stark charakterisiert, zu vernachlässigen. Hannibal entfaltet in Dolce sein volles Potential, weil hier die Gratwanderung zwischen kunstvollen Slow-Motion-Close-Ups, Charakterentwicklung, Plot, blankem Horror und schwarzem Humor mit Bravour gelingt. Hätte die dritte Staffel so angefangen, wären vielleicht nicht alle Zuschauer sofort vergrault worden. Andererseits wäre es dann wahrscheinlich auch nicht so effektiv, wie es jetzt der Fall ist.
Besonders schön ist die Bandbreite an Frauenfiguren, die im Dunkeln ihre eigenen Pläne aushecken, während ihre männlichen Mit- und Gegenspieler sich mit mehr oder weniger offenen Karten bis aufs Blut bekämpfen. Bryan Fuller und sein Team haben sich die Kritik an den enttäuschend geschriebenen weiblichen Charakteren offenbar zu Herzen genommen. Allen voran natürlich Bedelia (Gillian Anderson), die uns immer wieder glauben lässt, sie sei ein weiteres Opfer von Hannibal (Mads Mikkelsen), nur um uns dann zu demonstrieren, wie viel von der jetzigen Situation eigentlich auf ihren eigenen Entscheidungen beruht. Sie pflegt Hannibals Wunden, anstatt ihn zu töten, wenn er bewusstlos ist, weil sie weiß, dass ihr nichts passieren wird. Sie ist fasziniert von dieser Bestie und neugierig, wie es weitergehen wird, doch sie macht nichts mit, worauf sie keine Lust hat. "I packed for you", sagt sie ihrem Ehemann mit erstaunlicher Gelassenheit, "this is where I leave you. Or, more accurately, where you leave me." Im Anschluss lässt sie durchblicken, dass sie das gewissermaßen so geplant hat, während Hannibal ihr ungläubig zuhört. Später ist sie vor der Polizei wieder die schockierte Ehefrau, die von Nichts wusste und Opfer von Hannibals Psychospielchen ist, eine nette Farce, die sie unglaublich gut auf Abruf abspielen kann.
Ihre erstaunliche Kühle hat vielleicht auch mit der Medizin zu tun, die sie sich offenbar regelmäßig verabreicht. Chiyo (Tao Okamoto) unterbricht sie dabei, doch Bedelia lässt sich nicht im Geringsten aus der Fassung bringen. "You must be looking for Hannibal Lecter", sagt sie der Fremden mit dem Scharfschützengewehr, die gerade einfach in ihrer Wohnung aufgetaucht ist. Bedelia ist sofort von der entschlossenen Chiyo fasziniert ("I thought Will Graham was Hannibals biggest mistake. I wonder if it isn't you"), die ebenso wenig daran interessiert ist, Hannibal umzubringen. Denn wie in vorangegangenen Episoden bereits klar gestellt, muss Chiyo sich und ihm immer noch beweisen, dass sie nicht die selbe Bestie werden kann wie er, weil sie entgegen seiner Erwartung niemals jemanden umbringen würde. Inwiefern jedoch ihr Plan ihn einzusperren, weniger bestialisch ist, muss sich noch herausstellen.
Währenddessen schmieden Alana (Caroline Dhavernas) und Margot (Katharine Isabelle) ihre eigenen Pläne und machen genau das, worauf wir alle gewartet haben: Sex. Zugegeben, die psychedelische Intimität zwischen den beiden kommt trotz den mehr oder weniger subtilen Ankündigungen ziemlich überraschend, doch das macht es nicht weniger logisch. Die beiden sind ein hervorragendes Team, das, genau wie Bedelia, hinter seiner scheinbaren Zurückhaltung eigene Ziele verfolgt und damit gegen die anderen in der Jagd um Hannibal spielt. Offenbar haben sie nicht das geringste Interesse daran, Mason (Joe Anderson) weiterhin an ihrer Seite zu haben und arbeiten daran, ihn ins Gefängnis zu bringen. Das bedeutet jedoch nicht, dass Margot die Verger-Familie im Allgemeinen unwichtig ist. Ganz im Gegenteil will sie den Stammbaum weiterführen und da ihr das persönlich nicht mehr möglich ist, muss sie irgendwie an das Sperma ihres Bruders kommen, bevor er weggesperrt wird.
Bei den Männern hingegen werden die Pläne deutlich brachialer durchgeführt. Mason fantasiert wie wild darüber, Hannibal essen zu können. Seine entsprechende Traumsequenz ist dabei besonders vielsagend: Dort kann er zwar laufen, doch sein Gesicht ist immer noch entstellt. Offenbar stört es Mason also gar nicht so sehr, dass nicht mehr so viel von seinem Gesicht übrig geblieben ist, denn im Grunde verstärkt es nur den Teil seiner Persönlichkeit, den er schon immer am meisten gemocht hat. Er macht den Leuten Angst. Sein neuer Gesichtszustand drängt ihn bloß noch stärker in die Rolle des Superbösewichts, die er ohnehin schon immer genossen hat. Der Rollstuhl hingegen ist ein echtes Hindernis, weil er auf die Hilfe und Pflege anderer angewiesen ist und das mal so gar nicht zu seinem Auftreten passt. Da liegt es nahe, dass er selbst in seiner größten Fantasie nichts an seinem aktuellen Gesicht ändern würde. Das macht ihn aber natürlich nicht weniger verstörend als er ohnehin schon ist.
Besonders schlimm geht es aber wie erwartet im Hause Lecter zu, wo endlich die Wiedervereinigung mit Will (Hugh Dancy) und Jack (Laurence Fishburne) stattgefunden hat - und es ist genauso schön, wie wir es uns vorgestellt haben. Vollgeblutet und vernarbt sitzen sie nebeneinander und werfen mit Schmeicheleien um sich. Hannibal eröffnet mit "If I saw you every day, forever Will, I would remember this time" und Will erwidert mit einem entzückten Lächeln und erzählt davon, wie er sich Hannibal an Orten eingebildet hat, wo er seit Jahren nicht mehr gewesen ist. Nach einer Szene wie dieser konnte die Episode nur auf zwei Arten enden: Entweder kommt es endlich zu dem romantischen Höhepunkt zwischen Will und Hannibal, in dem sie Zärtlichkeiten austauschen und für immer mit Wills Hunden in ein fernes Land flüchten, um sich gegenseitig den ganzen Tag zu analysieren und sich schmutzige Kannibalenwitze zuzuflüstern. Oder aber Will wird am Esstisch betäubt, Hannibal holt die Kreissäge raust und fängt an seine Schädeldecke aufzuschneiden, um sein Gehirn essen zu können, während Jack alles tatenlos mit ansehen muss. Hannibal wurde jedoch offensichtlich unterbrochen, denn nun hängen beide bei Mason im Schlachthof. Irgendwer muss hier jetzt mal gegessen werden.
"You may make a meal of me yet, Hannibal. But not today."
Notizen am Rande:
- Mason beim Essen ist das Ekelhafteste, was diese Sendung je gezeigt hat.
- Diese Episode war übrigens auch eine Hommage an Friedhof der Kuscheltiere.
- Falls ihr es noch nicht gewusst habt, in Korea gibt es die allerbesten Promo-Clips für Hannibal.