Filmfestivalbesucher sind keine besseren Filmfreunde

11.02.2015 - 09:00 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Berlinale: Selbstverpflichtung zum respektvollen Filmeschauen
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Berlinale: Selbstverpflichtung zum respektvollen Filmeschauen
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Anders als im alltäglichen Streaming- oder Kinogeschehen würden Filme auf der Berlinale noch mit Respekt behandelt, sagt ein Artikel der Tageszeitung Die Welt. Und verpasst gehobenen Festivalbesuchern einen Heiligenschein, der ihnen nicht steht.

Die Berlinale sei ein Refugium und Netlix nur zappen, schrei(b)t Filmkritiker Hanns-Georg Rodek in der Welt . Er möchte das aktuelle Festivalgeschehen der Hauptstadt gegen die vermeintlich neue Herkömmlichkeit des Filmeglotzens verteidigt wissen: Aktiv teilzunehmen an der Berlinale bedeute vor allem, Filme noch richtig wertzuschätzen – was dem gemeinen VOD-Konsumenten schon aufgrund seiner Nutzungspraxis nicht gelingen könne. Vorsichtshalber spricht der Welt-Text ihm daher die Fähigkeit zur ungeteilten Aufmerksamkeit ab: "Wenn der eine Film nicht gefällt, springt man nach drei Minuten zum nächsten". Rodek nennt das Konsumverhalten, es gefällt ihm gar nicht. Vielleicht muss er den Berlinalebesuch angesichts einer so eigentümlichen Vorstellung von Netflix und Co. also tatsächlich als "Selbstverpflichtung" begreifen: "Wer dorthin geht, entzieht sich bewusst jener Rezeptionspraxis von Filmen, die Alltag geworden ist". Und Alltag meint bei Rodek Abschätzigkeit: "Wahrscheinlich sind wir uns gar nicht mehr bewusst, wie respektlos wir inzwischen mit Filmen umgehen". Wer, wir, wahrscheinlich.

Der Text schimpft auch über den Geschmacksalgorithmus digitaler Verwertungskanäle ("wenn Sie diesen Film gestreamt haben, werden Sie auch diesen Film gern streamen wollen"), gibt sich leicht fortschrittspessimistisch ("wir sehen Nolans Interstellar auf dem Smartphone oder iPad") und spannt einen sarkastischen Bogen zu illegaler Filmbeschaffung ("sind die clever, diese Piraten"). Er tut das, weil immer gleich alles rein muss in den lowbrowkritischen Topf zu hohem Ross. Und weil man sich wahrscheinlich gerade nicht fragen soll, wen Rodek genau meint mit seinem "wir": Ob ich mich, ob sich überhaupt irgendjemand davon angesprochen fühlen soll, oder was das für ein angeblicher Alltag ist, den er da beschreibt. Leicht ließe sich sein Pamphlet also mit Verweis auf jene Seifenblase abtun, in der die traditionell Berlinale-verzweifelte Filmkritik ihre Vorfreude aktivieren (und optimieren) muss. Doch Rodek soll sie nicht umsonst bemüht haben, seine fraglichen Argumente für eine Festivalkultur, die offenbar erst verklärt und schließlich in Stellung zu anderen Filmerlebnissen gebracht werden muss, um noch relevant sein zu dürfen.

Seit 14 Jahren besuche ich die Berlinale mal mehr, mal weniger. Mehr heißt, sich um eine Akkreditierung zu kümmern und nach Abschluss an die 50 Filme gesehen und möglichst viele von ihnen rezensiert zu haben (ein Mal und nie wieder). Weniger bedeutet, das einfach sein zu lassen und sich stattdessen auf ausgewählte Titel zu konzentrieren (mich zieht es dieses Jahr einmal mehr wieder nur in die Retrospektive). So auch handhabt es natürlich der "gewöhnliche" Berlinale-Besucher: Er stellt sich an für Karten, er hofft und bangt um Restplätze, er belebt ein internationales Festival, dessen offener Publikumszugang beispiellos ist. Hanns-Georg Rodek sieht im Übernachten, Warten und Schlangestehen an Ticketschaltern, vor allem aber im Interesse der Zuschauer an notfalls auch obskuren Filmen, von "deren Existenz man am Morgen noch nicht einmal geahnt hatte", ein Indiz für besondere Kinoliebe: "300.000 Besucher binnen zehn Tagen lassen sich jedes Jahr darauf ein, obwohl es dem 'Ich habe die Wahl!'-Verhalten, das ihnen von der neuen digitalen Welt eingebläut wird, vollkommen widerspricht".

Neue digitale Welt versus alte analoge Berlinale – wenn das keine Romantik ist. Tatsächlich lässt einen der jährlich wachsende Zuschauerandrang der Internationalen Filmfestspiele Berlin ohne weiteres Glauben machen, Kino werde hier noch auf eine rar gewordene Art gefeiert, so als könne das hysterische Gerangel um Filmkunst nichts anderes sein als wahre Cinephilie. Mit meinen persönlichen Berlinale-Erfahrungen aber hat das eher wenig zu tun. Was Rodek widersprüchlich nennt, kann auch problemlos als Beweiserbringung des bekrittelten Konsumverhaltens durchgehen: Oft genug herrscht in unmittelbarer Nähe zu Ticketschaltern eine Hauptsache-Berlinale-Stimmung, die viel mit Eventgeilheit, aber kaum etwas mit einer Neugier auf Kino zu tun hat. Nicht wenige Besucher stehen für populäre, im Rahmen eines so vielfältigen Programms denkbar uninteressante Filme an (noch schlimmer: für Fernsehserien), um einigermaßen enttäuscht auf andere, "exotischere" Titel ausweichen zu müssen, wenn das Kartenkontingent ausgeschöpft ist. Sie werden das Kino dann vermutlich vorzeitig verlassen, sind aber trotzdem stolz, irgendwie dabei gewesen zu sein.

Respekt im Umgang mit Filmen? Seifenblase. "Wir haben in den vergangenen Jahren kaum mehr über Filme geredet, nur noch über das Konsumgut Film", beklagt sich Hanns-Georg Rodek, der in den vergangenen Jahren offenbar mit den falschen Leuten über Filme geredet hat. Dass er als Gegenprogramm ausgerechnet ein Festival preist, das nicht nur, aber eben auch von sehr vielen Schaumschlägern mitgestaltet wird, muss "uns" demnach wundernehmen. Denn auch die Berlinale ist durch und durch konsumerabel. Nicht allein, was die Filmauswahl und eine entsprechende Bereitschaft zu diskursivem Austausch angeht (darauf verweist ja bereits die Woche der Kritik ). Sondern in der Art, wie das Filmeschauen um jeden Preis zur Motivation wird – für die Schaumschläger, aber auch für manch einen Berlinale-Katalog durchackernden Hardcore-Cinephilen, der Filmfestivalhochgenuss als sportliche Disziplin missversteht. Bei einem Kinomarathon von bis zu sieben gesehenen Filmen pro Tag gibt es keinen Raum mehr, um über Filme nachdenken oder diskutieren, geschweige denn ihnen respektvoll entgegenkommen zu können.

Während diese von einer aufdringlichen Atmosphäre des Dazugehörenwollens umgebenen Besucher demonstrativ partizipieren, warten draußen schon die Festivaltouristen. Sie verirren sich nicht ins Kino, sie halten am Potsdamer Platz Ausschau nach Sensationen. Wollen Stars sehen, Selfies machen, Signaturen ergattern, kurz: wollen noch mehr Event. Das ist übrigens völlig in Ordnung und gehört sogar unbedingt dazu, hat aber trotzdem nichts zu tun mit mehr oder weniger Liebe zum Kino. Es eignet sich also leider gar nicht, diesen Festivalzirkus dergestalt gegen Streamingdienste oder andere Distributionskanäle ausspielen zu wollen, als handele es sich bei der Berlinale um die letzte Bastion filmischer Wertschätzung. Deshalb fürs Protokoll: Auch Berlinalezuschauer verlassen Kinosäle so rasch wie ein Netflix-Abonnent Filme skippt, auch sie spielen ausgiebig auf Smartphones und iPads herum. Und dass es überhaupt erst bestimmter Privilegien bedarf, um sich ein solches Festival als Besucher leisten zu können, ist für Hanns-Georg Rodek offenbar sowieso kein Thema. Heimkinofreaks und VOD-Nutzer, lasst euch nichts einreden – auch ihr seid gute Filmfreunde.

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