Netflix lässt Serien einfach so sterben - und das ist furchtbar unnötig

08.02.2020 - 10:00 UhrVor 4 Jahren aktualisiert
Serien-Paradies Netflix?
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Serien-Paradies Netflix?
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Kleine Serien haben ein kurzes Leben bei Netflix, die Absetzung erfolgt häufig nach nur einer Staffel. Meist kriegen diese Serien keine echte Chance. Das muss nicht so sein.

Seit ungefähr einem Jahr häufen sich Wortmeldungen gekränkter Netflix-Showrunner, die hilflos mitansehen müssen, wie ihre Geschöpfe sang- und klanglos im Meer neuer Serien verschwinden. Es ist ihr letzter Versuch, wenigstens den Augenblick des bereits akzeptierten Verscheidens bedeutsam zu machen: die Schwanengesänge sterbender Serien.

Ein besonders berührendes Exemplar legte letzte Woche Joshua Safran vor, dessen Serie Soundtrack nun auf dem Friedhof vorzeitig beendeter Netflix-Serien ruht. Dort liegen nun mindestens 40 Stück. Wenn ihr nicht genau wisst, ob eure Serie nicht vielleicht auch zwischenzeitlich abgesetzt wurde: hier unser Kondolenzbuch.

Bei Netflix verschwinden Serien, ohne geschaut zu werden

Gegen das Beenden von Serien ist erstmal nichts einzuwenden. Es gibt sowieso viel zu viele davon. Nun wurde Soundtrack bei Netflix aber genau wie Tuca and Bertie, das deutsche Skylines, Spinning Out, Daybreak oder Chambers nach nur einer Staffel wieder abgesägt.

Drei wichtige Thesen zum Artikel

  • Netflix setzt auffallend häufig kleine Serien nach nur einer Staffel ab.
  • Der Algorithmus erschwert uns das Entdecken dieser Serien.
  • Das Problem ist aber viel größer und betrifft nicht nur Netflix.

Safran stürzt das in eine buchstäbliche Existenzkrise. "Was wäre, wenn du eine Serie machst und niemand bekommt es mit? So fühlt es sich mit Soundtrack an", gibt Joshua Safran bei Twitter  Einblick in seine Gefühlswelt. Fast hätte er wohl gefragt: Wenn du eine Serie für Netflix gedreht hast, und niemand sieht sie - existiert sie dann überhaupt?

Tuca and Bertie

Natürlich tut sie das, aber das Körperlose der digitalen Welt kann einem Schöpfer ohne Publikum schon mal den Boden unter den Füßen wegziehen. Safran ist andere Dimension gewohnt und erstmals mit der harten Streaming-Realität konfrontiert. Er war unter anderem an Gossip Girl beteiligt, in den Nullerjahren ein Popkultur-Phänomen.

"Ich habe zweieinhalb Jahre daran gearbeitet [...]", schreibt Safran über Soundtrack "und doch ist jetzt alles verschwunden. Es wurde kaum drüber geschrieben. Es fühlt sich an, als wäre die Serie gar nicht veröffentlicht worden."

Abgesetzte Serien: Der Schmerz des Künstlers

Das tut selbst beim Mitlesen weh und verursacht auch bei mir durchaus Gewissensbisse. Ich persönlich habe Soundtrack nicht gesehen und weiß auch nur von einer Person, die es getan hat. Bei Moviepilot sprechen wir jede Woche über fast jede Serie, die neu im deutschen Raum auf irgendeiner Plattform veröffentlicht wird, und Netflix-Serien bekommen in der Tat mehr Aufmerksamkeit als andere Serien. Und doch ging diese lautlos an mir vorbei.

"Es ist für immer auf Netflix", fleht Safran in seinem Brief um wenigstens ein paar Zuschauer, was so aber irgendwie wie ein Fluch klingt. Für immer auf Netflix. Netflix als Isolationshaft. Wenn Serien verschwinden, bevor sie jemand sehen konnte, ist das ein furchtbares Schicksal, für die Serien und ihre Beteiligten. Lisa Hanawalt machte sich nach der Absetzung ihres Projektes Tuca and Bertie auf Twitter Luft und erhielt tröstende Rückmeldung von Fans.

Auch der deutsche Serienmacher Edin Hasanovic erboste sich  nach dem Aus von Skylines nach nur einer Staffel, bei Netflix gehe es "leider immer mehr um Zahlen" und "offensichtlich weniger um das, was die Zuschauer sehen wollen".

Der Netflix-Alghoritmus versteckt Serien

Wenn Hasanovic damit meint, dass die Nutzer bei ihrem liebsten Serienlieferanten nicht sehen, was sie eigentlich sehen wollen, hat er sogar ein bisschen Recht. Die Plattformstruktur macht das Entdecken schwer, zumal das eigenständige Suchen und Entdecken nach persönlichem Gusto hier gar nicht vorgesehen ist.

Der Algorithmus soll das übernehmen und viel besser können. Angeblich werden uns auf Basis unseres Alters, Geschlechts, der Tageszeit und anderer seltsamer Parameter "perfekte Situationen prognostiziert" , für die uns dann Serien und Filme angezeigt werden. Das können wir Kuratierung nennen - oder Bevormundung durch eine anonyme Technik.

Einen Monat haben Serien in dieser Alghoritmusmühle Zeit, ihr Publikum zu finden - die Rechnung wird bei dem Streaming-Dienst offen kommuniziert. Da kann es eben schon mal passieren, dass eine Serien beendet wird, die, wie Soundtrack, gefühlt niemand gesehen hat. Weil der Algorithmus sie keinem Nutzer zuordnen konnte etwa und obendrein niemand darüber schreibt oder twittert.

Der Erfolg einer Serie ist ein gemeines Glücksspiel

Wie genau der Algorithmus funktioniert, weiß niemand. Aber scheinbar begünstigt er Hypes. Serien, die gut laufen, bewirbt Netflix zudem nochmal zusätzlich. Das Bemühen, einer Serie mit Startschwierigkeiten auf die Beine zu helfen, ist zumindest nicht erkennbar.

Skylines

So wirkt es manchmal wie ein Glückspiel, was bei Netflix durch die Decke geht und was ohne einen Abdruck in der Welt zu hinterlassen wieder verschwindet. Denn es geht ja auch andersherum. Eine Auswertung bei Netflix birgt immer noch das Versprechen unendlicher Reichweite.

Nischenproduktionen können zu globalen Hits werden, Darsteller und Autorinnen zu Stars. You, ursprünglich keine Netflix-Serie, ist das eindrucksvoll gelungen. Beim Lifetime schauten wöchentlich 1,1 Millionen Menschen zu. Bei Netflix schossen die Zuschauerzahlen auf 40 Millionen hoch.

Netflix kennt immer häufiger nur die Extreme, wobei das negative deutlich häufiger auftritt. Der schlimmste Fall: Erst sind Serien nicht sichtbar, unter Content-Schichten versteckt. Dann werden sie still und heimlich beendet, weil sie niemand gesehen hat. Eine selbsterfüllende Prophezeiung. Da Netflix nur für die erfolgreichsten Serien Zugriffszahlen veröffentlicht, ist schwer zu sagen, welche Hürde eine Serie überspringen muss, um als Hit zu gelten und verlängert zu werden.

Kleine Serien: Streaming-Dienste sind in der Pflicht

Vielleicht ist das auch natürliche Selektion und Netflix eigentlich ein Ort der blinden, gerechten Gleichheit. Erfolg hat die Serie, die stark ist und sich an die Oberfläche kämpft, ans Licht des Hypes. Wenn selbst BoJack Horseman-Fans nichts mit Tuca and Bertie anfangen können, stimmt vielleicht irgendwas nicht mit der Serie. Ich mochte sie nicht, und ich liebe BoJack. Ich habe aber auch nur eine Folge geschaut. Da sind wieder die Gewissensbisse. Sie hat eine Wertung von 6.8 bei Moviepilot.

Spinning Out und Soundtrack sind jetzt auch keine Zuschauerlieblinge. Skylines (7.3) wiederum wurde in Deutschland positiv besprochen. Eine echte Korrelation zwischen Qualität und Aufmerksamkeit können wir nur schwer nachweisen. Und darum geht es ja auch nicht wirklich, denn wenn wir über Qualität streiten, streiten wir ganz schnell über Geschmack und das führt zu nichts. Das Problem liegt woanders.

Nicht nur bei Netflix verschwinden Serien

Dass Serien unbeachtet von den Serienfans bleiben, für die sie bestimmt sind, ist ja kein reines Netflix-Phänomen. Welche Serien wir schauen, ist mehr denn je abhängig von den Diensten, die wir abonniert haben. Kleine Meisterwerke fristen häufig ein einsames Dasein in den Tunnelsystem der großen Plattformen.

Fleabag

Die Stephen King-Serie Castle Rock wäre bei Netflix oder Amazon wahrscheinlich zum viralen Hit in Deutschland geworden. Sie läuft aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Amazon-Channel StarzPlay, den man leicht abonnieren, nur kompliziert aber wieder kündigen kann. Phoebe Waller-Bridges preisgekröntes Killing Eve ist da ebenfalls abrufbar und fand, anders als Fleabag, das bei Prime in der Flatrate liegt, kein großes deutsches Publikum.

Nicolas Winding Refns von Cineasten weltweit heiß erwartete Serie Too Old To Die Young versteckte Amazon in Deutschland. Wer sie sehen wollte, musste den Titel ins Suchfeld eingeben. Beim Smart-TV mit einer Fernbedienung eine langwierige und nervtötende Aufgabe.

Das Problem von Serien im Internet ist die angemessene Präsentation im ständigen Überfluss des Neuen. Wenn in den Aufmerksamkeitsspiralen des Internets auch kleine Serien ihr Publikum finden sollen, müssen Streaming-Dienste dafür Mittel und Wege finden. Der Mut zur Produktion von vielfältigen Stoffen ist ja schön und gut, aber damit ist es nicht getan. Auch auffindbar müssen die fertigen Werke sein.

Die Kategorie "Das passt absolut nicht zu deiner Watch-History, aber vielleicht ist ja trotzdem was dabei" würde ich jedenfalls regelmäßig aufsuchen.

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Verlasst ihr euch auf den Netflix-Algorithmus?

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