The Walking Dead und die Kunst des Cliffhangers

29.10.2016 - 08:50 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
The Walking Dead: Buchstäblich ein Schlag ins Gesicht
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The Walking Dead: Buchstäblich ein Schlag ins Gesicht
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Cliffhanger gelten als billige Erzähltechnik der Zuschauerbindung. Doch dramaturgische Verzögerungsstrategien haben entscheidend mit der weit verbreiteten Lust an TV-Serien zu tun - und regen zur Auseinandersetzung mit künstlerischen Werken an.

Vor einem halben Jahr nahm die sechste Staffel der AMC-Hitserie The Walking Dead ein schrecklich ungeklärtes Ende. Es ging, das bezeugten vor allem Millionen verdutzte Internet-Wortmeldungen, um die nicht beantwortete Frage, welche beliebte oder weniger beliebte, auf jeden Fall aber signifikante Hauptfigur aus der Serie scheiden würde. Zu hören war in der letzten Folge vor der Sommerpause lediglich ein garstiger Abzählreim, zu sehen der über die gesamte Staffel hinweg aufgebaute Bösewicht Negan. Er schlug, so viel war sicher, besagte Hauptfigur mit einem Stacheldraht umwickelten Baseballschläger namens Lucille kräftig zu Brei. Ein klassischer Cliffhanger, von den Serienproduzenten nicht weniger klassisch zum Einsatz gebracht: Ungewissheit einen Sommer lang, anhaltendes Publikumsinteresse garantiert. Wer Gewissheit und also Erlösung suchte, musste zum Auftakt der nächsten Staffel wieder einschalten. Zur Überbrückung liefen Wiederholungen und ein persönliches Geschenk des Senders an Hauptdarsteller Norman Reedus.

Die erste Folge der von entsprechend hohen Erwartungen begleiteten siebten Staffel gab es vergangene Woche zu sehen. Sie hielt, was sie versprach, die Beantwortung der entscheidenden Frage, und zeigte mit großer Deutlichkeit, was zu zeigen den Fans der Serie bis dahin eigentlich sehr wichtig schien: Unverhülltes Sterben, vom Off in die Bildmitte, von der unerträglichen Ahnung zur blutigen Gewissheit. Die wenigsten aber waren mit dieser Auflösung zufrieden. Manche hätten sich – was sonderbar klingt und den Themen der Serie auf unangenehme Art zuspielt – andere Opfer "gewünscht". Vielen war zudem die dargestellte Gewalt ein Dorn im Auge: Extreme Brutalitäten sind in The Walking Dead nur legitim, wenn diese sich nicht gegen beliebte oder weniger beliebte, auf jeden Fall aber signifikante Hauptfiguren richten. So erwies sich der Staffelauftakt einer dystopischen Serie, die wie keine andere von Hoffnungslosigkeit, unmenschlichen Lebensbedingungen und dem Zusammenbruch zivilisatorischer Grundpfeiler erzählt, als offenbar überraschend unangenehm.

Negan und Lucille: Da waren's nur noch neun

Bemerkenswert war die (in vielleicht mehrerer Hinsicht programmatisch betitelte) Folge The Day Will Come When You Won't Be allemal. Wie da mit einem (oder ganz buchstäblich: mehr als einem) Schlag jede Aussicht auf ein befreiendes Gefühl genommen und in stattdessen noch engere um Publikumserwartungen herum geschnürte Fesseln gelegt wurde, muss man Lehrstunde in Sachen Aufmerksamkeitsökonomie nennen. Den ablehnenden Reaktionen auf die ungeklärte Frage der letzten Staffel (kritischer Konsensus beim Stimmenaggregator Rotten Tomatoes: "der manipulative Cliffhanger sorgt für ein enttäuschendes Staffelfinale") folgten jedenfalls gleichsam ablehnende Reaktionen auf den Klarheit verschaffenden Auftakt der neuen – und Überleitungen zu weiteren Diskussionen, die den Schwerpunkt von "Welche Person trifft es?" zu "Musste es ausgerechnet diese Person treffen?" verlagerten. Cliffhanger vs. Rezeption: Während das Publikum bereitwillig von einem Spielfeld zum nächsten marschiert, fordert es zugleich, noch einmal würfeln zu dürfen.

Nur die Produzenten von Game of Thrones, der (nicht zufällig) anderen großen populären Fernsehserie dieser Tage, verstehen sich ähnlich geschickt auf derartige Spielanleitungen. Wenngleich Geschick, ebenso wie Kalkül, einen wertenden und damit schon wieder allzu dramatischen Klang besitzt – The Walking Dead tut schlicht, was sehr viele Serien tun, und sie tut es mit großem Erfolg. Sie staffelt und strukturiert ihre Erzählung im Sinne des Affekts. Sie unterbricht, verschiebt, ordnet neu an. Sie sortiert ihre Einzelteile mit Blick auf Zuspitzungen. Und sie setzt oder setzt eben nicht, wenn sie sich der Aufmerksamkeit ihres Publikums versichern will, kathartische Punkte (wobei die Verweigerung einer Katharsis selbst kathartische Effekte produzieren kann). Teasing-Strategien, die das Publikum in jene Abhängigkeit bringen, die es sich eigentlich auch erhofft, sind eine methodische Voraussetzung der abwechselnd auf Frust und Lust abzielenden Bindung an eine Serie. Und mehr als das.

Ein Herz für Rick

Der übel beleumundete Cliffhanger, gemeinhin als plumpes und unelegantes Mittel seriellen Erzählens verschrien, wendet diese Methodik nicht besonders billig an, sondern macht sie nur deutlicher sichtbar. Die Schicksale von Serienfiguren erscheinen, zu ungewissen Höhepunkten ausgeweitet, plötzlich seltsam funktional, ein dramaturgischer Schlenker im sonst kaum merklich braven Geradeaus von Drehbuch und Regie ungelenk. Der Cliffhanger als Kunstgriff gerinnt zum irritierenden Werkzeug, das unverhüllter und darin gerade nicht manipulativer als jede andere erzählerische Spielart eingesetzt wird, um Emotionen erzeugen und lenken, um aufmerksamkeitsökonomisch erzählen zu können. Er hat also, wie alle Werkzeuge, Funktion und Nutzen, ist aber ein über bloße Effektivität hinausgehendes narratives Mittel: Seine Transparenz und Direktheit zwingen zur Beschäftigung mit einem Werk als Werk, weil sie es – daher rührt vielleicht sein schlechter Ruf – unsanft entblößen. Je rigoroser ein Cliffhanger das Konstrukt offen legt, desto größter ist die Ablehnung.

The Walking Dead ließ das Publikum sechs Monate im Unklaren darüber, welche Figur(en) Negan und seine (auch symbolisch, nämlich als deftige Keule in Richtung Komfortzone lesbare) Lucille ermorden würden, und selbst im Gewissheit bringenden Staffelauftakt arbeitete die Serie noch mit einer Verzögerungstaktik, die die Spannung weiter anheizte. Das ist, je nachdem, pervers oder konsequent: Eine Folge, der es inhaltlich darum ging, die Hauptfigur Rick durch ausdauernde Erniedrigungen zu brechen, schien auch den Zuschauer nicht ungeschoren davon kommen lassen zu wollen. Ich habe an anderer Stelle bemerkt, dass The Walking Dead unser Verhältnis zu den Figuren und ihrem Entwurf von der Welt auf eine ständige Belastungsprobe stellt. Sie zwingt uns kontinuierlich, das Handeln dieser Menschen zu hinterfragen, und ist, wenn auch spät, zum Kern ihres großen Referenzvorbildes, den Filmen von George A. Romero, vorgedrungen. Mit Manipulationen hat das wenig zu tun. Die Serie ermöglicht, ganz im Gegenteil, Distanz und Offenheit gegenüber ihren Inhalten.

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