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Von Welten, Visionen und der eigenen Motivation

11.11.2017 - 09:00 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Mittelerde, Hogwarts, Narnia, Pandora, Gotham City, Dystopie aus Blade Runner: Das faszinierende Erschaffen fremder Welten
Warner Bros.
Mittelerde, Hogwarts, Narnia, Pandora, Gotham City, Dystopie aus Blade Runner: Das faszinierende Erschaffen fremder Welten
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Dieser Artikel ist ein Community-Beitrag, der im Rahmen unseres Schreibwettbewerbs Mein liebster Kinomoment entstanden ist.

Wie mir ein Filmmoment die Überzeugung lieferte, welchen Lebensweg ich einschlagen will. Die Magie des Kinos:

„Mein Gott, wie die Zeit vergeht!“, gepaart mit einem wehmütigen Seufzer und hochgezogenen Augenbrauen. Gefühlt erlebe ich diese Situation einmal pro Woche. Ich spreche die Worte nicht selbst aus, denke innerlich aber dasselbe wie mein Gegenüber. Manchmal komme ich mir vor wie Matthew McConaughey in Interstellar, der nach einer mehrtägigen Expedition ins All feststellen muss, dass seine süße kleine Tochter auf der Erde in der Zwischenzeit zu einer greisen Frau gealtert ist. Mir geht es vor allem so, wenn ich in Jahreszahlen denke. Das Jahr 2009 liegt gefühlt zwei Jahre zurück, während in Wahrheit in zwei Monaten bereits 2018 ansteht. 2018! Kinder des Jahrgangs 2000 fahren demnach auf den Straßen Auto und schreiben sich in Unis ein, während ich ihnen gedanklich noch den Schnuller reiche und mit ihnen spreche wie mit einem Hundewelpen. Fehler in der Matrix. Zweifellos. Aber wenn es einer ist, so bleibt er bisher unaufgelöst. 2009 liegt also bereits acht Jahre zurück. Und damit auch mein prägendstes Kinoerlebnis. Wahnsinn!

Es war Mitte Dezember. Da ich aus dem tiefsten Schwarzwald komme, traditionell natürlich ein eiskalter Dezember. Winterwonderland in der Natur, Chaos auf den Straßen, verstimmte Gesichter mit Grinch-Mimik, die verkünden, sie würden den Winter hassen. Schlaue Sprüche meines Dads wie „Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung.“ Ja ja, danke für diese erleuchtenden Worte.
Ich war damals 17 und bereitete mich aufs Abitur vor, indem ich gewissenhaft acht Staffeln Scrubs schaute und der mühsam aufgebauten Form der vergangenen Fußballsaison mit Plätzchen, Lebkuchen und Schokolade bereits vor den Feiertagen den Todesstoß verpasste. Alles stand im Zeichen der anstehenden Weihnacht.
Für mich aber stand noch ein anderes Event an. Es gab da diesen neuen Film. Als innovativ wurde er angepriesen. Visionär. Bahnbrechend und revolutionär. Marketingmenschen sind wirklich bescheidene, tiefstapelnde Wesen, wie mir nicht erst nach diesen Umschreibungen bewusst wurde. Doch meine Neugierde war geweckt. Der Trailer sah vielversprechend aus, die ersten Kritiken verfielen beinahe in die Superlativ-Ausdrucksweisen der Marketingmenschen und die Thematik traf genau meinen Geschmack. Und während mir bei manchen Filmen egal ist, ob ich sie am Starttag oder erst zwei Wochen später sehe, flüsterte mir hier mein Spinnensinn zu, am Premierentag auf der Matte stehen zu müssen. Außerdem brauchte ich für diesen Film ein gutes Kino und vor allem auch gute Plätze. Am Mittwoch, 18 Uhr, exakt eine Woche vor Kinostart, war der erste mögliche Zeitpunkt, Karten zu reservieren. Ich entdeckte meine sonst meist verschollene deutsche Pünktlichkeit und rief um 18:01 an. Eine Minute später hatte ich reserviert und kam mir vor wie ein Urlauber, der früher aufsteht um sich mit dem Handtuch die beste Liege am Pool zu sichern. Immerhin musste ich dafür aber nicht früher aufstehen. Schön.
T minus sieben. Eine Woche noch. Was ich in dieser Woche gemacht habe, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich drückte mir mein Dad jeden Morgen um sechs grinsend eine Schneeschaufel in die Hand um den Hof zu schippen, anschließend saß ich die letzten Tage des Jahres in der Schule ab und legte mich am Abend neben meinen Hund aufs Sofa, um noch etwas Fußball auf der X-Box zu zocken. „Sohn, solltest du nicht Hausaufgaben machen?“ „Wir haben so kurz vor Weihnachten keine mehr bekommen.“ Ja. Ist klar. Meine Pinocchio-Nase störte beinahe beim X-Box spielen. T minus fünf, drei, zwei, eins.

Begleiten würde mich ins Kino mein Bruder – ich brauchte schließlich einen Fahrer. „Hallo, die größte Tüte Popcorn und einen halben Liter Spezi.“ „Süßes oder salziges Popcorn?“ „Süßes!“ Wer isst denn bitte salziges Popcorn im Kino? Aber wahrscheinlich bin ich der Banause, weil ich es nie probiert habe. Die Türen des Kinosaals öffnen sich, man drückt uns einen kleinen Gegenstand in die Hand und ich schaue interessiert auf meine Kinokarten. Platz in der letzten Reihe. Sehr gut. Exakt die beiden Sitze in der Mitte. Noch besser. Exakt die beiden Sitze, die als einzige deutlich besser gepolstert sind, als alle anderen. Jackpot. Ich feiere mich insgeheim für meine frühe Reservierung und wehre mich gegen die leichte Genugtuung gegenüber der armen Leute in der ersten Reihe, die sich bei 2 Stunden und 42 Minuten Film eine Nackenstarre holen würden.
Aber zunächst Werbung. Die schlechtgemachte Regionalwerbung des Brillenladens, der semi-brillant alle Models im Spot ohne Brillen auftreten lässt, dann die Werbung der Großkonzerne, „Gibt’s auch hier im Kino“-Eis und die armen Studenten, die sich mit einem bescheuerten Reim zum Affen machen und versuchen, noch etwas Eiscreme zu verkaufen. Freunde, es ist Dezember! Mit ein bisschen mehr Mut hätte ich es auch nach vorne gerufen. Versucht’s doch mal mit Glühwein. Keiner kauft ein Eis, die mitleidserregenden Studenten schleichen von dannen. Ich hoffe, sie werden nicht nach Verkaufsquote bezahlt.
Trailer starten. Als Filmnerd vor dem Herrn kenne ich natürlich alle schon und fühle mich cool, weil ich meinen Bruder spoilern kann. „Die Szene ist lustig!“ Hihi. Ich Idiot. Als anderer Kinogänger hätte ich mich selbst wahrscheinlich gehasst.
Popcorn essen, Handy weg, Maul halten. Der goldene Kodex.
Und dann die erste Neuerung: „Bitte setzen Sie jetzt Ihre Brillen auf.“ Ich bin so gespannt, dass ich beinahe mein Popcorn verschütte. 3-D! Abgefahren. Future starts now.
Im Kinosaal kehrt so gebannte Stille ein, dass man eine Stecknadel würde fallen hören. Wäre da nicht der epochale Sound, der kurz darauf aufbrandet und verkündet, dass 20th Century Fox die Geldschatulle für dieses Riesenprojekt geöffnet hat. Natürlich trompete ich in Gedanken die Melodie des Filmunternehmens mit. Wer tut das nicht!?
Und dann? Dann startet eine Erfahrung, die mich bis heute geprägt hat. Viele von euch, die natürlich längst wissen, in welchem Film ich mich da gesetzt hatte, werden nun vermutlich denken „Ernsthaft? Aus diesem Film ist dein liebster Kinomoment? Der ist total langweilig und abgekupfert. Die Story ist schlecht.“ Nein, der Meinung bin ich nicht. Ich mag den Film. Aber viel wichtiger: Darum geht es auch überhaupt nicht. Ich hatte diesen einen magischen Kinomoment, an den ich mich so häufig zurückerinnere, nicht in einem meiner absoluten Lieblingsfilme, sondern in einem Film, der mich zutiefst beeindruckt hat.

Rollstuhlfahrer Jake Sully (wer ist der Kerl? Ich hatte den Schauspieler noch nie zuvor gesehen) landet auf Pandora. Pandora? Büchse der Pandora? Spoiler? Junge, du denkst zu viel nach. Kopf aus, genieß den Film.
Und wie sehr ich das tat, überraschte mich hinterher ganz gewaltig. Denn „Avatar – Aufbruch nach Pandora“ zog mich komplett in eine andere Welt. Die so inflationär gebrauchte Floskel wurde für mich zum ersten Mal bei einem Kinobesuch faszinierende Wirklichkeit. Denn dem Film gelang es auf fast magische Weise, alles andere auszublenden. Er zog mich vollkommen in seinen Bann und ließ mich sogar vergessen, im fünf Sekunden Takt in meine Popcorntüte zu greifen und meine Klamotten vollzukrümeln. Ich lebte in diesem Moment auf diesem wunderschönen Planeten, flog mit dem futuristischen Hubschrauber mit und musterte jedes Detail der seltsamen Flugwesen, die im Schwarm übers Wasser hinwegjagten. Inspizierte jede Pflanze, jede Flussbiegung, änderte rasch meinen Blickfokus, weil sich im Augenwinkel ein neues Detail auftat und staunte mit Gänsehaut, als der ultramarinblaue Protagonist plötzlich vor einer Herde riesiger, nashornartiger Wesen verharrte, deren röhrendes Gebrüll den gesamten Kinosaal füllte, während sich hinter ihm langsam eine Art Raubkatze anschlich und die Nashornwesen in Panik versetzte.

Wow! Packendes 3-D, das das Potential des Kinos neu absteckte, eine Welt, so viel schöner als die Realität, ein Held, der nach seinem Platz im Leben sucht und das Gefühl, dass ich genau in dieser Sekunde selbst auf diesem fernen Planeten stehe und mich derselben Gefahr stellen muss. Das war sie. Die so häufig beschriebene „Kino-Magie“. Und das war er. Mein liebster Kinomoment, seit ich als laufender Meter im Kinosessel gehangen und Timon, Pumba und Simba „Hakuna Matata“ singen gehört hatte. Denn er legte in meinem Kopf einen Schalter um. Ich war so beeindruckt, so begeistert, dass das plötzlich einen kraftvollen Ehrgeiz in mir schürte. Wenn Menschen mit Scribble-Boards und Computern eine solch unfassbar schöne Welt zaubern konnten, dann wollte ich das auch versuchen. Es fühlte sich an, als wäre ich plötzlich von einem Virus infiziert. Christopher Nolan goss dieses Phänomen in Inception ein Jahr später in Worte: „Was ist der widerstandsfähigste Parasit?“ „Eine Idee“. Richtig. Der Parasit namens Idee hatte sich in meinem Kopf festgesetzt.

Als ich am späten Abend das Kino verließ und mit roten Wangen in die kalte Winterluft trat, diskutierte ich mit meinem Bruder kaum über den Film, wie wir das sonst für gewöhnlich bis ins letzte Detail taten. Ich war gedanklich noch zu sehr weggetreten und erschuf in meinem Kopf gerade so epische Welten, Charaktere und Geschichten, dass ich noch kein Interesse daran hatte, wieder ins Hier und Jetzt des Jahres 2009 zurückkehren, wo wir hastig zum Auto zurücklaufen mussten, damit wir nicht zu spät nach Hause kamen. Schließlich war am nächsten Tag wieder Schule. Schule. Wie trivial. Meine Stimmung sagte mir gerade eher the sky is the limit!

Es gibt diese Filme, die verlässt man als anderer Mensch. Und sei es nur für wenige Minuten oder Stunden, wenn man nach einem Actionfilm mit Verfolgungsjagd ins eigene Auto steigt, Kavinskys „Nightcall“ laut aufdreht, lässig die Hand oben auf dem Lenkrad platziert und sich einbildet, dass im Rückspiegel gleich mehrere Polizeiautos auftauchen, denen es zu entkommen gilt. Oder ich verlasse den Batman-Film und habe das Gefühl, als würde ich selbst ein Cape tragen und sofort heldenhaft dazwischen springen, wenn auf der Straße gleich irgendetwas passiert. Schließlich bin ich ja selbst ein verkappter Batman. Und nur ich selbst. Die anderen Kinogänger haben ja alle keine Ahnung und sind meiner nicht würdig. Nanananaaaaa. Es ist jedes Mal aufs Neue faszinierend: Kopfhörer mit guter Musik aufs Ohr, Kapuze aufziehen, Hände in die Hosentaschen, unbesiegbar sein. Auch wenn man für alle anderen in diesem Look eher aussieht wie ein frierender Halbstarker, dem auf dem Heimweg die Kippen ausgegangen sind.

„Avatar – Aufbruch nach Pandora“ verließ ich mit einem Plan für die Zukunft. Ich wollte eigene Welten erschaffen. Eigene Charaktere kreieren. Eigene Geschichten schreiben. Das Vorhaben hatte ich schon früher gehabt, aber der Film brachte meine Motivation endgültig ins Rollen. Als hätte ich über viele Jahre Motivationssammelpunkte in ein Heft geklebt, das nun endlich voll war und darauf wartete, dass ich den Preis einlöste. Es hatte noch dieser eine letzte Funken gefehlt, der das Feuer entfachte. Und das war er nun gewesen. Noch am nächsten Tag setzte ich mich abends vor den Laptop und begann ambitioniert, einen Roman zu verfassen. Kurz nach dem Abitur schrieb ich mich für „irgendwas mit Medien“ ein und arbeite mittlerweile beim Film, während ich nebenher weiterhin fleißig Geschichten schreibe, bald mein erstes Buch veröffentliche und vor allem nie den Traum aus den Augen verloren habe, selbst eines Tages einen Teil zu solch einer Film-Magie beizutragen, die dann vielleicht ein kleiner neugieriger Junge popcornkauend im Kino sieht, sich eine Videokamera zu Weihnachten wünscht und 30 Jahre später als der Spielberg seiner Zeit gefeiert wird.

Und sollte nie etwas daraus werden, dann hat es eben nicht sollen sein. Meine Motivation bleibt ungebrochen. Und vor allem bleibt die Freude ungebrochen, der Fantasie alle Fesseln zu nehmen und die Möglichkeiten auszureizen, mit nichts mehr als meinen Gedanken und einem leeren Blatt Papier Architekt eines Kosmos zu sein, dem keine Grenzen gesetzt sind.
Und das über all die Jahre hinweg, in denen sich so viel getan hat. „Gott, wie die Zeit vergeht.“ Dieses Mal kommen die Worte aus meinem eigenen Mund.

***

Wir bedanken uns ganz herzlich bei unseren Sponsoren. Hier erfährst du alles zum Prozedere des Schreibwettbewerbs und den Preisen. Eine Übersicht aller Texte des Schreibwettbewerbs findest du hier.

Denk daran: Stimme ab für Deutschlands Lieblingskino 2017!

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