Bildung ist ein Menschenrecht, welches jedem in ausreichendem Maß zugänglich sein sollte und keine Ware, die nur denjenigen zugänglich ist, die in der Lage sind, dafür genügend zu zahlen. Eine Grundfeste des Lebens, die nicht nur Persönlichkeit und Identität des Einzelnen formt, sondern auch für das Funktionieren einer Zivilgesellschaft unablässig ist. Das Grundthema des Films dürfte also jeden zunächst einmal komplett abholen, der das ähnlich sieht und Missstände bezüglich des Bildungssystems immer schon kritisch beäugte. Ob nun in Indien oder in einem anderen Land, ist zum Hineinfühlen in die erzählte Geschichte eigentlich egal.

(Westliche) Freunde von Sozial- und Inszenierungsrealismus sollten jedoch vorgewarnt sein, denn bei diesem Leinwandwerk handelt es sich trotz seiner Content-Orientierung und moderner Aufmachung tendenziös um einen fürs Massenpublikum tauglichen südindischen Masalafilm, der mit all den wunderbaren und filmkulturell richtig einzuordnenden Stilistiken und Manierismen ausgestattet ist, die dieses Kino zu einer ganz eigenen Kunstform machen – überbordend-emotional und melodramatisch, seine Botschaft plakativ und einfach verständlich manifestierend, manipulativ mit wuchtigem suggestivem Musikeinsatz und zudem mit eingestreuten Larger-than-Live-Hero-Actionsequencen aufwartend, nicht zu vergessen die Songs mit partiellen Tanzeinlagen.

Zu Beginn begegnet der Zuschauer Abhiram und seinen zwei Freunden, die sich im Hier und Jetzt gerade auf ihre College-Aufnahmeprüfung vorbereiten. Die Lehrer sind schlecht, die Absolventen verstehen nichts im Unterricht. Als die Jungs nebenher das längst geschlossene Videogeschäft von Abhirams Großvater entrümpeln wollen, weil dieses verkauft werden soll, entdecken sie hinter Staub und Spinnweben eine Holzkiste, in der sich alte Videobänder befinden. Als sie sich die darauf befindlichen Aufnahmen ansehen (in der Hoffnung, dass es sich um pornografische Inhalte handeln könnte), ist ein Lehrer vor einer grünen Schultafel zu sehen, der in effizienter Weise klar verständlich Mathematikunterricht gibt. Es sind exakt die Aufgaben, die auch sie zu bewältigen haben.

Natürlich wollen sie nun wissen, was es damit auf sich hat. Der Name A. M. Kumar auf einer beigelegten Quittung führt die Schüler nach intensiver Recherche schließlich in die Provinzstadt Kadapa, wo besagter Mann als höherer Beamter arbeitet. Er erkennt die Videobänder sofort und weiß, wer auf ihnen zu sehen ist. Von Emotionen ergriffen erzählt A. M. Kumar nun die Geschichte von Balamurugan Sir, dem ambitionierten jungen Hilfslehrer, der in den 1990er-Jahren an ein verwaistes staatliches Junior College in der Provinz geschickt wurde, sich dort ohne Unterstützung von Eltern und Verwaltung beweisen und das Vertrauen der Schüler gewinnen musste, gegen das System rebellierte und gegen das desaströse Chaos aufbegehrte, das die Schulprivatisierungen dieser Zeit im Bildungssystem hinterließen (erklärt in der Eröffnungssequenz nach der Titeleinblendung ab der 10. Minute).

Der charismatische Kollywood-Star Dhanush (der zuletzt u.a. im Netflix-Streambuster „The Gray Man“ zu sehen, wohl aber eher verschwendet war) weiß mit seinem schon oft in Tamil-sprachigen Filmen zur Schau gestellten Charme als Sozialreformer, der gegen die Ungerechtigkeiten der Gesellschaft zu Felde zieht, auf ganzer Linie zu überzeugen und seiner Heldenfigur das passende Antlitz zu geben, als jung-forscher Lehramtsanwärter mit Idealen und noch abzuschüttelnder Naivität. Es macht einfach Spaß mit anzusehen, welche Lösungsansätze er findet und es berührt, wenn er vor seiner Klasse vom Überwinden der sozialen Ungerechtigkeit durch Bildung referiert. Dabei ist die Geschichte vom Underdog, der sich gegen das scheinbar unbesiegbare Böse auflehnt, wobei er auch herbe Rückschläge einstecken muss, als Formel fürs Kino nicht neu. Es kommt darauf an, wie sie umgesetzt, interessant variiert und/oder neu erzählt wird. Und hierbei haben die Macher dieses Actionsozialdramas gute Arbeit geleistet.

Ohne Längen wird die Geschichte flüssig inszeniert und vorangetrieben, sodass beim Zusehen kein Unlustgefühl aufkommt, so denn man den Eigenarten des südindischen Masala-Films gewogen ist und ob der wunderbaren Verbildlichung ein eher schlichtes Drehbuch akzeptieren kann. Die Bildgestaltung gefällt samt üppiger Farbnachbearbeitung, welche dem Ganzen ein sehr filmisches Aussehen verpasst. Auch wenn die Handlung eher auf unrealistisch-überhöhten Pfaden wandelt, sind die Settings realistisch und das Sozialmilieu authentisch gezeichnet. Zudem fallen der grandiose Background Score und die eingängigen Songs auf, komponiert von G.V. Prakash Kumar, dem Neffen von Oscar-Preisträger A.R. Rahman, der seinem Onkel in Sachen Können in nichts nachzustehen scheint. Jeder Titel ein Kracher! Definitiv eines der frühen Filmmusik-Highlights des Kinojahres 2023.

Faszinierend ist, wie der Film seine Hauptfigur fast religiös überhöht, wie auch die Personalie des Lehrers an sich und die Schule/Bildung damit quasi zur Religion erhebt. Sinnbildlich dafür ist die von mir sogenannte „Jesus-Kreuzgang-Szene“ mit Ben-Hur-Anleihen, natürlich ganz ohne Kreuz, aber mit Wasser, wenn auch nicht im Becher gereicht. [SPOILER] Bala Sir, von korrupten Polizisten im Dienst des Bösen gefoltert und geschunden, wird auf dem heißen Sand der Dorfhauptstraße vor den Augen aller mit nackten Füßen und zerfetzten Klamotten samt getrocknetem Blut auf eben diesen ausgesetzt, um ihn veranschaulichend für das einfache Volk aus dem Ort zu treiben (mit den Mächtigen legt man sich halt nicht an). Seine Habseligkeiten wurden auf die Straße geschmissen. Keiner hilft ihm. Wenn indische Polizei foltert, hauen die mit Stöcken immer auf die Fußsohlen. Der „Problemschüler Nr. 1“ sieht das, rennt zum öffentlichen Brunnen, pumpt Wasser, zerschlägt das Becken, sodass das Wasser über die Dorfstraße unter die Füße von Bala Sir fließt und ihm Milderung verschafft. Gleichzeitig ruft er die verängstigten Mitschüler in den Seitenstraßen, macht ihnen vehement klar, wer etwas für sie getan hat. Immer mehr Schüler (seine Jünger quasi) strömen auf die Hauptstraße, um Bala Sir unter die Arme zu greifen und ihn aus dem Ort zu geleiten. [SPOILER ENDE] Einprägsam, wuchtig und anrührend!

Natürlich bleiben bei der Fokussierung der Geschichte auf den Hauptcharakter bzw. auf den Star Danush etliche andere Charaktere/Schauspieler etwas auf der Strecke. Die Chemie zwischen Danushs Charakter und seinem „Love Interest“, der von Samyuktha verkörperten Biologielehrerin Mennakshi, stimmt, ist als Liebesgeschichte aber schlussendlich nur eine Randnotiz. Samuthirakani als Villain hätte ob seines Charismas vielleicht etwas mehr eindrückliche Szenen verdient. Ein paar quatschig-komödiantisch angehauchte Szenen hätte man sich sparen können. Was wiederum positiv ins Gewicht fällt, ist die völlige Abwesenheit des Films von irgendwelchen nationalistischen und regierungsagendakonformen Tönen, obwohl diese seit 2014 immer mehr „en vogue“ im indischen Mainstreamkino geworden sind und mittlerweile teils recht penetrante Ausmaße erreicht haben.

Zu erwähnen ist noch, dass der Film simultan in den Sprachen Tamil und Telugu herausgebracht wurde, was u. a. darauf zurückzuführen ist, dass der Regisseur, der mit diesem Werk einen Abstecher nach Kollywood machte, eigentlich aus dem Telugu-sprachigen Tollywoodkino stammt. Aufgrund dessen lautet der Telugu-Titel des Films „Sir“, und in der Telugu-Version haben die Protagonisten wie auch die Handlungsorte anderen Namen. Ich selbst, der indische Filme immer in der Sprachversion der Filmindustrie schaut, der sie zuzurechnen sind, habe die Tamil-Version gesehen.

Alles in allem eine wunderbare, moderne südindische Masalafilm-Perle mit dem Herz am richtigen Fleck, die mich emotional mitgenommen hat und deren Thematik auch allgemeingültig wichtig ist. Ganz klare Empfehlung!

Trailer:
https://www.youtube.com/watch?v=FOEtbqbwS50
Song-Score:
https://www.youtube.com/watch?v=-3-oLEWQ5Tg
Filmplakate:
https://images.kinorium.com/movie/poster/2837976/w1500_51586295.jpg
https://igimages.gumlet.io/tamil/home/vaathi2872022m.jpg
https://pro.sgp1.digitaloceanspaces.com/2022/11/DatePoster_Vaathi.jpg

Einordnung: Tamil Cinema (= Kollywood)
Genre-Ausrichtung: Schulsystemkritisches Provinzlehrer-Sozialactiondrama
Musical-Song-Tanz-Nummern: ja (3)

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