Der Live-Betrug im Fernsehen

23.06.2012 - 08:50 UhrVor 12 Jahren aktualisiert
Jogi scherzt nicht während des Spiels
ZDF/moviepilot
Jogi scherzt nicht während des Spiels
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Einige Prominente haben ein Talent dafür, sich ins Abseits zu schießen. Aber nicht nur Einzelpersonen gelingt dies, sondern auch Verbänden und Teilen einer Berufsgruppe. Und das kann einfach nicht unter den Teppich gekehrt werden.

Sie neigt sich dem Ende zu, die Europameisterschaft. Auf moviepilot ist der Hype um das runde Leder, das mittlerweile gar kein Leder mehr ist, jedoch nie richtig aufgekommen. Das ist auch gut so, schließlich ist das hier ja auch keine Sportseite. Von Interesse sind jedoch Vorfälle während des Turniers, die originär medialer Natur sind. Genauer gesagt: wie Fernsehzuschauer verarscht und hinters Licht geführt werden.

Der Aufreger der Woche handelt von den verfälschten Weltbildern, die von der Europäischen Fußball-Union in Auftrag gegeben wurden.

Heile Welt
Mittendrin statt nur dabei, praktisch vor Ort, obwohl zig Kilometer dazwischen liegen, gemeinsam mit anderen Menschen auf der Welt die gleichen Dinge erleben – deshalb gibt es Live-Übertragungen. Fernsehen auf diese Weise macht großen Spaß, da es ein unmittelbares Erlebnis ist, ungeschönt und echt. Die Skeptiker unter uns zweifelten daran schon immer, schließlich muss irgendwer entscheiden, wann welche Bilder eingefangen und gesendet werden. Gut, da gibt es praktische Gründe, aber während der EM wurde auch dem letzten Live-Romantiker der Zahn gezogen, dass er Teil eines relativ unverfälschten Ablaufs ist. Bundestrainer Joachim Löw wurde während des Spiels gegen die Niederlande als entspannter Scherzkeks gezeigt, obwohl die Szene gar nicht zu diesem Zeitpunkt stattgefunden hat. Das Protestbanner der Grünen-Europaabgeordneten Rebecca Harms und Werner Schulz blieb unbeachtet. Ein Flitzer, der Kroaten-Trainer Slaven Bilic einen fetten Schmatzer aufdrückte, fand im TV einfach nicht statt. Und ebenso wenig wurden Bengalo-Brände und leere Sitzreihen gezeigt. Die Uefa baut sich ihre heile Welt.

Das Live-Prinzip
Mit der EM an sich hat das nichts zu tun, sondern mit einem System, das journalistische Standards weit ausdehnt. Alle Live-Bilder dieses Sportereignis produziert nämlich ein Unternehmen, das den Auftrag von der Uefa bekommen hat. Und die Order scheint deutlich zu sein: Nur keine Skandale! Dabei ist relativ unwichtig, ob Joachim Löw während des Spiels scheinbar mit seinem Hund spazieren geht, Michel Platini zeitgleich an mehreren Orten sein kann, oder Bastian Schweinsteiger durch Einspieler aus seiner Jugendzeit plötzlich eine andere Frisur und mehr Pickel hat. Es geht vielmehr um das grundsätzliche Prinzip einer Live-Übertragung. Wäre das aktuelle Sportstudio 1971 nicht live bzw. in „geschöntem“ live gelaufen, hätte wohl niemand die legendäre Szene gesehen, als ein Schimpanse der Frau von Johnny Weissmuller die Perücke vom Kopf riss. Und nicht nur komische Momente währen der Weltöffentlichkeit vorenthalten worden, sondern auch politisch oder gesellschaftlich einschneidende.

Zensurgefahr
Welche Blüten Live-Zensur treiben kann, wissen wir seit dem denkwürdigen Nipplegate-Skandal. Wer es verdrängt hat: Janet Jackson entblößte während der Halbzeitshow des Super Bowl 2004 ihre gepiercte Brust, was das Sittlichkeitsempfinden einiger Zuschauer schwer verletzte. Konsequenz des Vorfalls war, dass Live-Sendungen in den USA zeitlich verzögert gezeigt werden, um nackte Haut oder etwaige andere „moralisch zweifelhafte“ Vorfälle rausschneiden zu können. Wirklich live ist das nicht. Vor Nippeln hat die Uefa wohl keine allzu große Angst, vor allem, was die Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung ankratzen könnte allerdings schon, weshalb auf perfide Weise ein zwar nicht falsches, jedoch inkorrektes Bild präsentiert wird.

Live-Übertragungen im Fernsehen sind nur dann sinnvoll, wenn das Bemühen erkennbar ist, mit den Aufnahmen die tatsächlich gegebenen Umstände rüberzubringen, auch wenn die nicht jedem gefallen. Das ist selbstredend schwierig, da stets nur begrenzt Eindrücke eingefangen werden können. Dem Publikum am TV-Gerät aber von vornherein etwas vorzugaukeln, geht gar nicht. Das ZDF hat sich zumindest über die reingeschnittenen Bilder beschwert. Ob das reicht, wird sich zeigen.

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