Die Essenz des Kinos nach Jim Jarmusch

18.05.2009 - 16:13 Uhr
TOBIS
Der ungekrönte König des US-Indie-Films verändert sich, aber bleibt sich dabei treu. Ein Porträt des Künstlers und seine Definition des Kinos.

Jim Jarmusch gilt vielen Filmliebhabern noch immer als Speerspitze und führende Kraft des US-amerikanischen Independent-Kinos. Wem das etwas zu dick aufgetragen erscheint, muss zumindest zugestehen, dass er einer der bekanntesten und erfolgreichsten Filmemacher ist, der sich dem kommerziellen Druck des amerikanischen Studiosystems verweigert. Da sich nun die Independent-Szene, und mit ihr Jarmusch, seit den 1980er Jahren stark gewandelt hat, stellt sich die Frage, was diese Bewegung noch ausmacht, was sie möglicherweise einmal ausgemacht hat und was Independent eigentlich noch bedeuten soll.

Das Independentkino

Als Independent-Filme werden im Allgemeinen vor allem amerikanische Produktionen bezeichnet, die ohne Finanzierung und Vertriebsunterstützung der großen US-Studios wie Warner, Disney, Universal, Fox oder Sony auskommen. Es sind zumeist kleine Filme, die mit geringem Budget und unter hohem Zeitdruck hergestellt werden. Dass das auch Auswirkungen auf Inhalt und Stil des Independent-Kinos hat, liegt auf der Hand. Doch diese Art des Filmemachens auf den ökonomischen Aspekt zu reduzieren, greift wohl etwas zu kurz. Independent bedeutet in erster Linie künstlerische Unabhängigkeit, die sich, inhaltlich wie ästhetisch, bewusst von den konventionellen Erzählmustern des Hollywoodkinos abheben will. Entscheidend ist die Freiheit bewusst am Massengeschmack vorbei produzieren zu können, indem man sehr persönliche, unbequeme und kompromisslose Arbeiten abliefert, die Möglichkeiten des Kinos jenseits des Mainstream aufzeigen.

Ein bekannter Ausspruch von Jim Jarmusch lautet: “Ich würde lieber einen Film über jemanden machen, der seinen Hund ausführt, als über den Kaiser von China.” Damit umreißt der Filmemacher in kurzen Worten auch sein Verständnis eines unabhängigen Kinos, das sich statt Stars, Geld und Glamour einen freien Blick auf die kleinen Geschichten leistet. Die Drehbücher schreibt Jarmusch zu allen seinen Filmen selbst, und zwar jeweils für ganz bestimmte Schauspieler. Um diese Figuren herum baut er dann eine Geschichte auf. Er verzichtet dabei ganz bewusst auf die üblichen Mittel wie Drehplan und Storyboard, um der Handlung während der Dreharbeiten mehr Raum zu lassen. Sein Kino handelt von unangepassten Außenseitern wie von ganz normalen Menschen mit ihren Fehlern und Schwächen, jenseits weltfremder Hollywood-Ideale von Heldenmut, Tugend und glatter Schönheit. Die Orte dieses Kinos sind zumeist verfallene Hinterhöfe, düstere Stadtlandschaften und trostlose Provinznester. Es sind Filme, die dabei auch immer eine kritische Sicht auf die amerikanische Kultur vermitteln, ohne Pathos oder falsche Sentimentalität.

Das US-Independentkino: Seine Entstehung und Motive

Das amerikanische Independent-Kino entstand aus der Unzufriedenheit einiger Filmemacher, die sich von den großen Studios zu sehr gegängelt fühlten und die ihre eigenen künstlerischen Ideen verwirklicht sehen wollten. Die Welle des New Hollywood, die mit ihrem neuen Realismus und kritischen Themen das amerikanische Kino nachhaltig veränderte, war gegen Ende der 1970er Jahre abgeebbt. Die meisten ihrer großen Filmemacher, wie Martin Scorsese oder Francis Ford Coppola, hatten sich längst etabliert. Seit Beginn der 1980er Jahre dominieren Blockbuster, wie die von Steven Spielberg oder George Lucas, die amerikanische Kinolandschaft. Doch bildete sich in dieser Zeit auch eine ganz neue Generation junger Regisseure, die offenbar überhaupt kein Interesse daran hatten sich zu etablieren. Sie wollten vielmehr, ihre Themen und Filme abseits des wieder erstarkten Hollywood-Systems realisieren und stellten ihre künstlerische Eigenständigkeit über kommerzielle Erwägungen.

Pionier des US-amerikanischen Underground-Films ist John Cassavetes. Mit der Schauspielerei (z.B. in Rosemaries Baby) finanzierte er seit den 1960er Jahren seine eigenwilligen Filme, die er vor allem mit Laien und Freunden realisierte. Stilistisch fielen seine Arbeiten durch bewegte Handkamera, unsaubere Ausleuchtung, gelegentliche Unschärfen und plötzlich abbrechende Szenen auf. Das war einerseits Konsequenz des geringen Budgets, wie es andererseits von seiner kompromisslosen Ablehnung des sauberen Hollywoodstils zeugt. Unabhängiges Kino bedeutet hier, sich mit nichtperfekten Bildern auf die kleinen Geschichten von nichtperfekten Menschen zu konzentrieren und das kommerzielle Scheitern in Kauf zunehmen. Es bedeutet die Technik nicht über die Schauspieler zu stellen und macht aus der Not zur Improvisation eine Tugend.
In den frühen 1980er Jahre entwickelt sich nach dem Vorbild von Cassavetes und des europäischen Autorenfilms die Bezeichnung „Independent“ für ein US-amerikanisches Kino, das sich als explizite Gegenbewegung zum gefälligen Hollywood-Mainstream versteht. Statt einer Fixierung auf Massenerfolge und größtmöglichen Umsatz steht die künstlerische Originalität und Integrität im Mittelpunkt des Filmemachens. Zum bekanntesten Vertreter dieser Generation junger Regisseure entwickelt sich Jim Jarmusch. Mit Permanent Vacation, seiner Abschlussarbeit an der New York University Graduate School, liefert er seinen ersten Spielfilm ab, der noch auf wenig Interesse stößt. Er arbeitet als Produktions-Assistent für Wim Wenders und erhält von ihm einige übrig gebliebene Filmrollen, mit denen er die Arbeit an dem Film beginnt, der ihn schlagartig berühmt machen soll.

Independentkino nach Jarmusch

Stranger Than Paradise macht Jarmusch 1984 über Nacht zum gefeierten Star der Independent-Szene. Der Film kostete knapp 100.000 Dollar, spielte zweieinhalb Millionen ein. Finanziert wurde er unter Mitwirkung des Kleinen Fernsehspiels (ZDF) und des jungen deutschen Produzenten Otto Grokenberger, der auch sein nächstes Projekt maßgeblich unterstützt. Mit Down by Law – Alles im Griff gelingt Jarmusch der endgültige Durchbruch bei seinem immer noch zum größten Teil europäischen Publikum. Für Mystery Train kann Jarmusch den japanischen Elektronik-Riesen JVC als Geldgeber gewinnen, der in den 1990er Jahren sein treuester Finanzier bleibt. Zudem ist die deutsche Pandora Filmproduktion und der französische Sender Canal+ an vielen seiner Filme beteiligt. Bei der Finanzierung von Ghost Dog hat sich neben vielen anderen Investoren auch die ARD engagiert.

Jarmusch öffnet sich dem Mainstreamkino?

Auch in den 1990er Jahren bleibt Jarmusch im Wesentlichen seinem Stil treu. Namhafte Schauspieler reißen sich für wenig Geld um Rollen in seinen Filmen. Er dreht unter anderem mit Winona Ryder, Johnny Depp und Forest Whitaker, ohne sich dabei dem Mainstream-Kino anzubiedern. Filme wie Night on Earth, Dead Man oder Ghost Dog werden von der Kritik und Filmliebhabern gefeiert. Seine Filme werden zwar oftmals von der breiten Masse ignoriert und spielen auch nur wenig Geld ein, sie finden aber dennoch den Nerv einer treuen Anhängerschar, die sich mit den Außenseiterrollen seiner Figuren identifizieren kann. Das ändert sich etwas mit Broken Flowers von 2005, in dem ein alter Bekannter von Jarmusch Bill Murray die Hauptrolle übernimmt und dem Film große Aufmerksamkeit verschafft.

Jim Jarmusch gehört nach wie vor zu den wenigen Independent-Regisseuren bzw. Autorenfilmern des US-amerikanischen Kinos, die es schaffen, über lange Jahre die vollständige Kontrolle über die Produktion und den Rechten an ihren Filmen zu behalten. Vielen Regisseuren seiner Generation zeigte Jarmusch einen Weg, auf dem sich das Underground-Kino ein größeres Publikum erschließen konnte. Filmemacher wie John Sayles, Steven Soderbergh, Gus Van Sant und Wayne Wang spielten mit ihren eigenwilligen Filmen und geringen Budgets Einnahmen von mehreren Millionen US-Dollar ein. Ihrem Beispiel folgten Regisseure wie Kevin Smith (Clerks) und Richard Linklater (Slacker). Auch wenn sie dabei in ihrer Karriere nicht immer dem reinen Independent-Kino treu blieben, sind sie doch weiterhin auf die größtmögliche Unabhängigkeit ihrer Filme bedacht.

Neue Studios auf dem Indie-Markt

Nach dem großen Erfolg einiger Independent-Filme begannen die großen Hollywood-Studios Anfang der 1990er Jahre unabhängige Produktionsfirmen aufzukaufen bzw. eigene Abteilungen für ein Independent-Segment zu gründen. So schluckte Disney 1994 die Miramax der Weinstein-Brüder, die ihrerseits mit aggressiven Vermarktungs-Strategien den Independent-Film wesentlich veränderten. Die Fox gründete das Sub-Label Fox Searchlight-Pictures und MGMs Tochter United Artist engagiert sich ebenfalls auf dem Indiefilm-Markt. Auch das Sundance Festival, einstige Talentschmiede der Indie-Szene, entwickelt sich seit Jahren immer mehr zum verlängerten Arm der großen Hollywood-Studios für Mainstream-Filme mit Kunstanspruch. Die Grenze zwischen dem kommerziellen Kino und den alternativen Produktionen gerät seither zunehmend ins Schwimmen.

Das Wort Independent empfindet Jarmusch selbst inzwischen nur noch als Etikett, mit dem sich kleine Filme besser verkaufen. Der Filmemacher erklärt: „Ich lasse mir von der geschäftlichen Seite nicht diktieren, wie ich arbeiten soll. So definiere ich Unabhängigkeit" (nach Ula Brunner auf fluter.de). Auch wenn er sich seit Ghost Dog – Der Weg des Samurai dem amerikanischen Genrekino geöffnet hat und mit seinem neuen Film Limits of Control einen Thriller abliefert, hat er sich dabei doch seinen ruhigen und kritischen Blick bewahrt. Viele Kritiker bezeichnen Broken Flowers als Jarmuschs Hinwendung zum Mainstream, doch erscheint es müssig darüber zu diskutieren, ab welchem Budget, wievielen Kopien, welcher Größe des Studios oder des Vertriebs ein Film noch Independent genannt werden darf. Jarmusch erklärt, er habe beim Filmemachen nie an das Publikum gedacht. Er hält auch Broken Flowers für einen sehr ruhigen und ziemlich seltsamen Film, der sich nicht an irgendwelche Hollywoodregeln hält. Er habe nur den Film gemacht, den er machen wollte. „Wie immer.“ (siehe Spiegel).

Das ist es auch, was Jarmusch unter Unabhängigkeit versteht. Woher das Geld für seine Filme kommt, ist dabei relativ zweitrangig, solange er die völlige Kontrolle darüber behält. Er hat sich nie darum geschert, seinen Erfolg als Sprungbrett nach Hollywood zu benutzen, sondern blieb dem Ostküsten-Underground treu. Und wenn auch der Geist der Anfangsphase des amerikanischen Independent-Kinos weitgehend verflogen ist, so steht sein Name doch für poetische Geschichten über gesellschaftliche Außenseiter, die ohne falsche Gefühle oder ununterbrochenen Aktionismus auskommen. Davon gibt es im US-amerikanischen Kino leider nur wenige.

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