Die Freuden des Voyeurismus im Test zu Her Story

24.06.2015 - 17:30 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Her Story
Sam Barlow
Her Story
1
1
Her Story ist ein besonderes Detektiv-Spiel, das weitaus mehr kann, als nur eine händeringende Definitionskrise von Videospielen auszurufen. Stattdessen bietet es uns einen spannend inszenierten Kriminalfall, in dessen Mittelpunkt eine wendungsreiche Geschichte steht.

Ihr seid alleine in einem Büro: Während die grellen Neonröhren über euch immer wieder summend aufflackern, durchsucht ihr an einem alten PC Videodatei um Videodatei in kriseliger VHS-Optik, um dem großen Geheimnis auf die Spur zu kommen. Ist die ominöse Frau auf der anderen Seite des Bildschirms eines Mordes schuldig? Und wie hat sich die Tat abgespielt? Mit Hilfe klug gewählter Suchbegriffe wühlt ihr euch durch die Festplatte des Polizei-Computers und kommt der Wahrheit — im besten Fall — Klick um Klick näher.

Das Interface von Her Story ist dem 90er-Setting angeglichen.


Sam Barlow ist der Entwickler hinter diesem Spiel und wirkte bereits bei größeren Projekten wie Silent Hill: Shattered Memories  als Autor mit. Der Engländer sammelte allerdings schon 2008 mit einem Adventure namens Aisle wichtige Storytelling-Erfahrungen: Eine zufällige Begegnung in einem gewöhnlichen Laden fordert euch dazu heraus, immer wieder am selben Startpunkt zu beginnen und mit euren Entscheidungen nach und nach alle möglichen Geschichten zu erleben. Um ein erstes Gefühl für Barlows Spielgeschmack zu bekommen, solltet ihr einen kurzen Blick auf Aisle werfen, direkt hier und jetzt — ganz einfach in eurem Browser. 

Der Reiz des Beobachtens

Das Beobachten, aufmerksame Zuhören und Interpretieren von Gestik und Mimik spielt in Her Story eine gigantische Rolle: Im Grunde ist Voyeurismus das wichtigste Spielfeature, das es euch ermöglicht, die fragmentierte Geschichte zu entschlüsseln und Video um Video nach Informationen zu durchsuchen.

Dieses ständige Beobachten und Analysieren ist etwas, was die Mehrheit der Menschen heute mit ihren Handys, PCs oder Tablets ohnehin die ganze Zeit macht. Also habe ich diese Grundlage genutzt und lediglich ein wenig 'Spiel' hinzugefügt.

Auf diese einfache Formel bringt Sam Barlow seine Arbeit an Her Story im Interview mit der Spielekritikerin Leigh Alexander . Dieser Ansatz sorgt allerdings auch für einen Nebeneffekt: Es gibt keinen klassischen roten Faden im Spiel, an dem ihr euch entlang hangeln könnt. Lediglich fünf von über 200 Videofragmenten mit einer Länge zwischen drei und dreißig Sekunden geben euch einen Startpunkt für eure Recherche vor, die ihr dann ganz alleine durch die Wahl eurer Suchwörter in der Datenbank fortsetzt.

Die Körpersprache verrät oft ebenso viel, wie die gesprochenen Worte selbst.


Doch Barlow sieht diesen unvermeidbaren Nebeneffekt, der den Spieler mit einer gigantischen Vielfalt an Möglichkeiten konfrontiert, nicht als Schwäche an — ganz im Gegenteil. Die unzähligen Pfade bis zur entscheidenden Erkenntnis und dem lauten "Aaaachso!"-Ausruf machen viel vom Reiz aus, den Her Story versprüht:

Irgendwann verstand ich, dass es deutlich mehr Spaß macht, diese traditionelle Rundumbetreuung des Spielers einfach sein zu lassen. Das bedeutete aber auch, dass der Fall unter Umständen sehr schnell gelöst werden könnte. Daraus ergab sich ganz natürlich das eigentliche Ziel des Spiels, nicht nur den Mörder zu entlarven, sondern den kompletten Tathergang und alle Motive zu begreifen.

Und dieses ehrgeizige Ziel lohnt sich, verfolgt zu werden — das versichere ich euch. Nach etwa drei Stunden stolperte ich über die Lösung des Rätsels, doch viele Fragen blieben weiterhin offen. So spielte ich noch eine weitere Stunde, suchte nach den letzten verbliebenen Videosekunden, die endgültig Licht ins Dunkel bringen sollten und freute mich über das befriedigende Gefühl, wie es nur ein sich allmählich zusammenfügendes Puzzle erzeugen kann.

Die erfolgreiche Rehabilitierung von FMV-Trash

Full Motion Videos, kurz FMVs, war ein kurzlebiger aber bis heute unvergesslicher Trend innerhalb der Videospielbranche, der seine umstrittene Blütezeit in den 1980er und frühen 90er Jahren erlebte. Zwischensequenzen und teilweise auch Spielfiguren wurden von echten Schauspielern belebt, die zuvor in einem Studio bestimmte Bewegungen und Szenen aufführten, um danach vom Entwicklerteam ins fertige Spiel gepackt zu werden. Alternativ wurden erschwingliche Schauspieler eingesetzt, die vor echten Kulissen ihr Bestes gaben. Das Ergebnis war in den meisten Fällen ein Trash-Charme mit einer unfreiwillig komischen Note. Als ein Beispiel habe ich hier Corpse Killer gewählt, das aus dem Jahr 1994 stammt.

Herrlich.

Sam Barlow machte sich für Her Story den gleichen Stil zueigen: Er filmte die Schauspielerin (und talentierte Musikerin) Viva Seifert  zunächst mit modernen HD-Kameras und überspielte das Material dann auf VHS-Kassetten, die er sich in Gebrauchtwarenläden zusammensuchte.

Ich liebe diese alten VHS-Texturen: Diese vielen, kleinen Bildfehlerchen sind unkontrollierbar. Es ist, als würde man mit Wasserfarben zeichnen: Irgendwas Unvorhergesehenes passiert immer und ich als Künstler muss es hinnehmen und damit arbeiten.

Das Ergebnis ist nichts anderes als das überzeugendste und authentischste FMV-Spiel, das wohl jemals über einen Monitor geflimmert ist: Popkultur-Trash wich einem einvernehmendem 90er-Charme, der viel häufiger wieder von seinen Entwickler-Kollegen benutzt werden sollte.

Die Ära der FMV-Spiele war eine sehr interessante Zeit, die waren damals irgendetwas sehr dicht auf der Spur — allerdings verfehlten sie das Ziel und die damals neue 3D-Technik sorgte für einen Balance-Akt zwischen traditionellen Videospielen der 80er Jahre auf der einen Seite und unglaublich vielen, neuen Möglichkeiten in der dritten Dimension auf der anderen Seite.

Dieses Klischee des Trash-FMVs wurde nun endlich durchbrochen. Erstmals seit über zehn Jahren dürfen wir das Potential erleben, das simples Beobachten und Interpretieren bereithält.

Sam Barlow hat mit Her Story zahlreiche Türen aufgestoßen, die neue Möglichkeiten zum Erzählen einer Geschichte bisher verborgen hielten — nun liegt es an seinen Kollegen und Kolleginnen, ihm zu folgen.

Diese Review wurde dank eines PC-Keys erstellt, den uns der Entwickler zur Verfügung gestellt hat.

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare

Aktuelle News