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Dimensionen unserer Welt

23.10.2014 - 16:50 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
Maggie Gyllenhaal ist "The honourable Woman"
BBC/Sundance TV
Maggie Gyllenhaal ist "The honourable Woman"
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Ein Essay inspiriert von der Miniserie "The honourable Woman"

Die Frage nach der Gegenwart beschäftigt den Menschen sprichwörtlich seit Menschengedenken. Über kurz oder lang, da möchte Ich wetten, stellt sich jeder von uns diese Frage. Vielleicht in abgewandelter Form, nach dem täglichen Gleichgewicht durch Zeitmanagement. Vielleicht, indem sich auf die Suche nach sich selbst gemacht wird. Die Welt bereist wird. Erfahrungen machen ist hier das Stichwort und der Werbeslogan. Wie immer ein jeder zu solchen Findungstrips steht, am Ende ist die große Erkenntnis oft so etwas wie „Live the Moment“. Der Moment soll gefunden und gelebt werden, denn schließlich gibt es nur diesen Moment. Oder? Wird das Konzept des Momentlebens weitergedacht, können wir festhalten, dass für die Menschen unter uns, die den Moment anpreisen, dieser Moment gleichzusetzen ist mit Gegenwart. Der Moment stellt in dieser Gleichung immer die aktuelle Gegenwart dar. Umgekehrt gesprochen besteht unsere Gegenwart immer nur aus dem gerade ablaufenden Moment. Unsere Gegenwart ändert sich demzufolge stetig und andauernd, da sie untrennbar mit dem Moment verbunden ist. Logisch also, dass gefragt werden muss, was eigentlich diese Gegenwart konstituiert.

Nach dieser theoretischen Einleitung möchte Ich das titelgebende Thema nun auf seiner praktischen Ebene vorstellen. Die Initialzündung für diesen Essay lag, wie so viele meiner Inspirationen, im Betrachten eines visuellen Kunstwerks. In diesem Fall ist es Hugo Blicks neuester Streich The Honourable Woman, der mich auf die Reise geschickt hat. „The Honourable Woman" ist eine achtteilige Fernsehserie, produziert vom britischen BBC und dem amerikanischen Sundance Channel. Während und vor allem nach dem Schauen (manch einer würde hier das vollkommen zutreffende Wort „Erfahrung“ fallen lassen) dieser Serie durfte ich nach und nach erleben, dass hier nahezu alle Facetten des menschlichen Lebens porträtiert wurden. Eine Definition dieses menschlichen Wesens fällt nun schon schwerer. Eindeutig bin ich ein menschliches Wesen. Alle Attribute, die mir zugeschrieben werden, sind Teil meines Wesens und das letzte Mal, als Iich nachgeschaut habe, konnte ich mich noch gut und gerne als Mensch identifizieren. Logischerweise kann dies auch jeder Leser und natürlich grundsätzlich jeder Mensch auf diesem Planeten. Ebenfalls einleuchtend ist, dass jeder von uns verschiedene Attribute besitzt und somit sein eigenes menschliches Wesen darstellt. Trotzdem scheint der zuvor gewählte Begriff des menschlichen Wesens eine allgemeine Bedeutung anzudeuten. Was also beschreibt dieser Begriff?

Hugo Blicks Werk ist das, was im Fachjargon „current“ genannt wird. Es ist gegenwärtig. Es trifft den Augenblick, in dem sich die Gesellschaft befindet, den Moment, die Gegenwart. Vor dem Hintergrund des fortlaufenden Konfliktes zwischen Israel und Palästina inszeniert Blick mit „The Honourable Woman“ einen spannenden Spionagethriller. Dies ist die Ausgangssituation. Nessa Stein (Maggie Gyllenhaal) hat die Firma ihres Vaters übernommen, der zu seinen Lebzeiten als Waffenhändler sein Geld verdiente. Nach dem Tod ihres Vaters begannen Nessa und ihr Bruder Ephra (Andrew Buchan) das Vorhaben, die Firma des Vaters radikal zu verändern. Das Waffengeschäft wurde aufgegeben und die nun gegründete Stein Foundation widmet sich der Werbung um und für Frieden zwischen den beiden ewigen Kontrahänten. Das größte Projekt, welches Nessa als Imageträgerin verfolgt,st das dreistufige Vernetzen der verfeindeten Gebiete. Kommunikation und Fortschritt soll auf diese Weise Einzug halten. Neues Vertrauen soll entstehen. Verstrickt in diese Bemühungen findet sich Nessa im Laufe der Serie in einem internationalen Malstrom wieder, der nicht nur ihre eigene Perspektive verändern soll. „The Honourable Woman“ spielt zum größten Teil in der Gegenwart. In kleineren Segmenten verschiebt sich die Handlung jedoch auf eine Jahre zurückliegende Vergangenheit und bringt mit dieser Tatsache unser Konzept der Zeit zum Wanken. Schließlich befindet sich der Betrachter nicht in der Gegenwart des Serienschöpfers Blick und auch nicht in jener, in der die Charaktere wandeln. Dringend müssen wir eine klare Unterscheidung einführen.

Für die Zwecke dieses Textes werde Ich eine Trennlinie zwischen mir selbst, als Betrachter, und den handelnden Personen innerhalb des Werkes ziehen. Hugo Blick findet auf keiner der beiden Seiten Platz, da er sozusagen gottgleich über seiner Schöpfung schwebt und aus diesem Grund eine außerordentliche Position einnimmt. Nachdem wir so meine Welt von Nessas Welt getrennt haben, können wir beginnen die Dimensionen beider Kosmen auszuloten.

In der Natur des Mediums liegt hier zunächst, dass Blick nur einen Mikrokosmos entwerfen kann. Egal wie viele Charaktere (es sind einige) oder Handlungsstränge Blick als Autor niederschreibt, die fertigen acht Folgen werden immer, in Bezug auf den Makrokosmos, limitiert sein. Die Hauptlimitierung ist hier das Zeitformat der Serie oder schlichtweg, dass es eine Erzählung ist, die uns gezeigt wird. Mit anderen Worten könnte ein künstlerisches Werk nur einen Makrokosmos im weitesten Sinne entwickeln, wenn es andauernd jede Bewegung, die im gesamten Universum stattfindet, abbildet. Dies würde selbst die kleinste Partikelbewegung in der letzten Ecke des Weltraums umfassen und wie wir spätestens seit dem 21. Jahrhundert wissen, tun wir täglich sehr viel dafür, dass es noch mehr Partikel gibt. Trotzdem ist die Beziehung zwischen fiktionalem Mikrokosmos und realem Makrokosmos entscheidend. Ich möchte sogar sagen, dass sie nicht nur entscheidend, sondern essenziell für das Gelingen eines Kunstwerkes und jedes menschliche Denken ist. Unsere Gedanken bewegen sich tatsächlich stets in einem gewissen Mikrokosmos. Sei es das Gespräch, in dem wir uns soeben befinden oder die Arbeit, der wir nachgehen. Im besten Fall können wir dabei davon ausgehen, dass unsere Gedanken eine Relevanz für den größeren Zusammenhang besitzen. „The Honourable Woman“ ist ein solcher, bester Fall.

Die grundsätzlichste aller Dimensionen, von sowohl dem Mikro- als auch dem Makrokosmos, ist die Zeit. Hiermit ist in diesem Fall nicht der größere Zeitrahmen der Welt bezeichnet und auch nicht das sogenannte Raum-Zeit Kontinuum. In unserem Verständnis der Zeit gibt es Dinge, die bereits passiert sind, Dinge, die jetzt gerade passieren und Dinge, die noch passieren werden. Um uns die Beschreibung dieser drei Abteilungen deutlicher zu machen, haben wir sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft getauft. Alle drei Begriffe werden von uns ständig mit subjektiven Aspekten gefüllt. Heute morgen habe ich die Zähne geputzt (Vergangenheit). Jetzt schreibe ich diese Zeilen (Gegenwart). Später werde ich mich um meine Laufrunde jagen (Zukunft). Durch die Möglichkeite der Zeitrechnung verschiebt sich der Inhalt der Sparten ständig und andauernd. In objektiver Wahrnehmung passiert diese Verschiebung um den Bereich Gegenwart, als Dreh- und Angelpunkt herum. In subjektiver Wahrnehmung können Ereignisse in Vergangenheit und Zukunft eine solche Größe besitzen, dass sie es sind, um die sich alles dreht. (Manchmal ist eine subjektive Wahrnehmung breit gestreut, sodass sich eine große Zahl Menschen derart identifiziert) Als Betrachter des Kunstwerkes „The Honourable Woman“ nehmen wir die objektive Perspektive ein. Die Charaktere der Handlung sind selbstverständlich komplizierter, sprich subjektiver gestrickt.

Hugo Blick schafft es mit höchstem Bravour Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Figuren für den Zuschauer real werden zu lassen. Bei dieser Mammutaufgabe verlässt er sich in keinster Weise nur auf das gezeigte Bild. Eine fiktionale Welt, wie die der Serie, kann nicht einfach nur durch eine Bebilderung real werden. Was bedeutet real in diesem Zusammenhang? Der Duden sagt uns hierzu, dass etwas real ist, wenn es in der Wirklichkeit und nicht nur in der Vorstellung existiert. Weiterhin beschreibt das Wort etwas, dass mit der Wirklichkeit in Zusammenhang steht. Natürlich existiert „The Honourable Woman“ als Produkt in unserer greifbaren Wirklichkeit, doch die Themen und Handlungen in diesem Produkt tun es nicht. Aus diesem Grund greife ich an dieser Stelle auf letztere Bedeutung des Wortes real zurück. „The Honourable Woman“ ist ein künstlerisches Werk, welches real ist, da es mit unserer Wirklichkeit in Zusammenhang steht und mit ihr kommuniziert. Das Medium Film besitzt in seiner Vielseitigkeit einzigartige Möglichkeiten, um diesen Zusammenhang zu schaffen.

Hugo Blick, als Erschaffer des Werkes, ist die Autorität, an der jede Entscheidung vorbei gehen muss. Ohne die unzähligen Mittel eines filmischen Werkes, wäre er jedoch weit davon entfernt seine Kunst mit unserer Wirklichkeit zu verbinden. Natürlich sind die Schauspieler dabei eine der wichtigsten Komponenten. Angeführt von Maggie Gyllenhaal hat Blick für seine Miniserie ein starkes Ensemble versammelt. Die Gesichter der Schauspieler besitzen durchweg sowohl spezifische Akzente, als auch offene Projektionsflächen. Diese Dynamik macht eine Identifikation durch den Zuschauer leicht und die Möglichkeiten der kreierten Realität groß. Auch die Musik unterstreicht diese Möglichkeiten. Geprägt von einem Hauptthema verhält sich der Soundtrack wie ein aktiver Bestandteil der Serie, nicht wie eine passive Beschallung. Dieser aktive Blickwinkel ist es, der jegliche Aspekte der vorliegenden Produktion auszeichnet. Nichts ist zufällig gewählt, alles greift ineinander. Der Mann, der diese Fäden zusammenführt und zusammenhält ist Hugo Blick. Erst durch die aktive Haltung der verschiedensten Komponenten wird das Geschehen für uns real. Erst dann kann das Kunstwerk beginnen seine Themen zu entfalten und geistige Bereicherung liefern.

Die Themen von „The Honourable Woman“ sind der letzte Baustein dieses Essays. Natürlich sind es auch diese Themen, die im Umkehrschluss dem Gesamtkunstwerk seine Realität geben. Im Kern der Serie steckt ein weltumspannender Wunsch. Der Wunsch nach Einheit, nach Einklang. Einheit, dass ist um der Definition willen die Abkehr vom Fragmentarischen. Einheit ist das nie endende Rund eines Kreises. Es ist die Tatsache und das Wissen, dass zwei Gruppen eins sind, eine Einheit bilden, in Einklang existieren. Es ist vielleicht der ureigenste Instinkt des Menschen. In allen Facetten des Lebens spricht diees Verlangen aus uns. Wir suchen Die Einheit in unseren Beziehungen. Auch in unseren Familien. Ein Fußballstadion füllt sich nur mit derart vielen Menschen, da ein Verlangen der Zugehörigkeit zu einer Einheit exisitert. Aus dem gleichen Grund lesen wir jedoch auch Bücher. Das Lesen eines Buches lässt uns in Kontakt treten mit Autor und Inhalt. Ist die letzte Seite erreicht, haben wir das gesamte Buch in uns aufgenommen. Einheit. Im Licht dieses Wunsches ist „The honourable Woman“ ein selbstreflexives Werk, denn hier gilt das gleiche Modell, wie beim Lesen. In der Suche nach Einklang und Einheit liegt auch der vordergründigste Teil der Handlung. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina, oder Palästina und Israel, ist im Grunde ein Konflikt auf der Suche nach Einklang. Nach all der Zeit und ewigen Kämpfen ist die einzige Lösung des Konfliktes ein Gleichklang beider Nationen. Eine Einheit beider Nationen. Immer wieder gibt es Stimmen, die sagen, dass es erst eine Lösung der Probleme gibt, wenn diejenigen die Töten das Töten Leid sind. Auf allen Seiten. Trotz dieser einleuchtenden und verständlichen Haltung kann ich mir nicht helfen zu fragen: Kann es nicht eine andere Chance geben?

Besteht nicht immer und bei allen Konflikten, sei es in Familien oder zwischen Nationen, die Möglichkeit, dass zwei Menschen sich an einen Tisch setzen? Zwei Menschen, die sich ihrer selbst bewusst sind und um ihre jeweiligen Taten wissen? Zwei Menschen, die eine Tasse Tee miteinander trinken und den anderen mit offenem Herzen empfangen und aufrichtig sagen, dass es ihnen Leid tut? Ich muss daran glauben, dass es wenn diese beiden Menschen einander in tiefster Offenheit verbunden sind, alle Möglichkeiten gibt und eine sichere Chance auf Einklang.

„The Honourable Woman“ führt ein solches Treffen in abgewandelter Form herbei. Und auch wenn das Treffen in der Serie nicht verläuft, wie oben beschrieben, zeigt uns Blick ein Bild der Inspiration, welches die große Chance offen legt. Es ist diese Inspiration, die der Zuschauer mitnehmen muss.

In der Verbindung von Mikrokosmos und Makrokosmos, der Verbindung unserer Welt mit der, der Charaktere liegt der letzte Schlüssel. Nessa ist emblematisch für den andauernden Kampf nach Einheit. Sie ist die Person, in der sich all unser Verlangen sammelt. Sie ist genauso das Bindeglied zwischen den Parteien und nicht zuletzt ist sie auch ihr eigenes Bindeglied. Der große Konflikt, das große Streben nach Einklang manifestiert Hugo Blick tief in der Reise seines Hauptcharakters und gibt seinem Thema so die größtmögliche Nähe zu uns. In ihr vereinen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie lebt zwar in der Gegenwart, aber ist Vergangenheit und Zukunft gewahr. „Live in the moment, but be aware of past and future“ möchte ich auf die Poster schreiben. In Nessa vereint sich auch das menschliche Wesen. Ob wir es wollen oder nicht, das menschliche Wesen ist im Endeffekt die einzige Dimension, die in unserer Welt existiert. Genau weil wir die Welt zu der unseren gemacht haben. Wir waren es schließlich, die die Welt zu dem gemacht haben, was sie heute ist. Wir haben die Zeit beschrieben und haben Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erst erfunden. Wir sind der Ursprung all unserer Konflikte und ohne Frage sind wir auch die Lösung.

In der letzten Folge reißt Hugo Blick die Leinwand der Serie weit auf. Für einen kurzen Moment ist alles klar. In diesem Moment zeigt er uns, wie verloren Nessa wirklich war. In diesem Moment, ich bin mir sicher, dass die Serie schon in dem teilweise schwer zu verfolgendem Handlungsablauf darauf hinarbeitet, zeigt er uns, wie verloren wir wirklich sind. Wir sind Nessa. Wir begreifen, was wir getan haben und das wir die große Chance suchen müssen. In der Stunde großer Verlorenheit gibt uns „The Honourable Woman“ Hoffnung. Dies zeigt auch das letzte Bild der Serie. Wenn Blick, in seiner visuellen Brillanz, in verschiedenen Welten Hände über Wände gleiten lässt, dann verbindet er diese Welten. In dieser Geste liegt die konstante Bezeugung, dass es eine Existenz gibt. So lange es eine Existenz gibt, so lange gibt es auch Hoffnung. Kein Wunder, dass ein Kernbaustein der Handlung ein kleiner Junge ist, der Welten verbindet. Es gibt Hoffnung auf Einklang. Einklang mit uns selbst. Mit den Menschen um uns. Mit unseren Partnern und vermeintlichen Feinden. Mit anderen Staaten und auch mit der Natur. „The Honourable Woman“ umfasst all dies und Hugo Blick ist ein Meisterwerk gelungen. Wenn über all diesen Dimensionen, Vertrauen und Wahrheit steht, dann können wir es schaffen, da bin ich mir sicher.



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