Familien, Geishas und das Grab der Frauen

28.10.2013 - 08:50 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
An Autumn Afternoon
BFI
An Autumn Afternoon
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Nach den historischen Stoffen der letzten Woche wenden wir uns diesmal den beiden Häfen des arbeitenden Mannes in der Moderne zu, also der Familie und den Geishahäusern. Denn die filmische Aufbereitung der beiden weckt bis heute Begeisterungsstürme.

Unter Cinemenschen finden sich viele, denen bei der Nennung eines Namens wie Yasujiro Ozu der Sabber aus den Mundwinkeln läuft. Dieser hat aber seinen letzten Film schon 1962 gedreht und große Teile seines Werks aus den 20er und 30 Jahren gilt als verschollen. Wir reden hier also von keinen Blockbustern. Sie waren zu ihrer Zeit in Japan zwar sehr erfolgreich, aber im Ausland begann die Entdeckung Ozus erst in den 60er Jahren und die Erschließung des riesigen Vorkommens an einzigartigen Regisseuren, deren Werke sich fast ausschließlich mit dem Alltag der “kleinen Leute” beschäftigte, dauert im Grunde noch an. Sie waren demzufolge im Westen immer Nischenprogramm, das sich zwar auf Sight&Sound-Bestenlisten tummelt, aber dem ottonormalen Kinogänger kaum etwas sagt.

Die Hochphase dieser shōshimin-eiga (Filme über die untere Mittelklasse) fand sich in den 30er bis 50er Jahren. Da, wo in Deutschland die Heimatfilme und Großstadtdramen und in Hollywood die Melodramen regierten, da herrschten neben den Samurai eben Filme über Familien, Geishas und Prostituierte. Doch da, wo die deutschen Äquivalente (oft auch zu Unrecht) als Schnulzen verlacht werden und die US-amerikanischen Dramen (ebenfalls meist zu Unrecht) als Klischeebomben mit ihrer Reputation kämpfen müssen, da werden die japanischen Filme mit Würdigungen überschüttet. Im Herzen waren diese zwar auch Melodramen, doch ihre Regisseure kamen aus einer Welt, deren ästhetisches Verständnis ganz anders geartet war.

Realismus, Naturalismus und die fliegenden Errungenschaften der Wissenschaften schaukelten im 19. Jahrhundert ein präsentationsorientiertes Kunstverständnis zu seinem Höhepunkt. Kurz, es ging darum, die Welt möglichst genau abzubilden. Eine Fiktion der Logik entstand, in der Geschichten klar und luftdicht erzählt werden mussten. Menschen mussten logisch und nachvollziehbar handeln. Die Geschichtenerzähler mussten die Handlungen ihrer Figuren mit Motiven erklären und durften sich dabei nicht auf Klischees verlassen. Erst die Moderne sollte dies aufbrechen. In Japan arbeiteten jedoch Regisseure, die Kunst erst da erkannten, wo die menschliche Hand eingriff. Erst da, wo der Steingarten geharkt war, da war der Künstler. Der Wald war gegeben und wild. Erst die Zähmung brachte etwas Betrachtenswertes, das etwas über die Welt und den Menschen sagte. Und so drehten sie reduzierte, sensible Filme, die nicht die Welt zeigen sollten, wie sie war, sondern die mit einem verzerrten Blick andeuteten, was sich alles in ihr befand. So wurden entscheidende Entwicklungen weggelassen, das Wichtigste hinter Andeutungen verborgen und die Motive ihrer Figuren im Schatten belassen. Statt die Menschen, die sie darstellten, mit vulgären Erklärungen auszuleuchten, respektierten sie sie und ließen diesen ihre Geheimnisse. Hysterie war diesen Filmen fremd und sie wussten wie viel tiefer die Abgründe waren, die nicht sofort zu durchschauen waren. Im Westen trauten die Kritiker ihren Augen kaum, als diese Filme in den 50ern und 60ern auf den Filmfestivals der Welt auftauchten. Sie waren aus ihrer Sicht schlicht unfassbar modern erzählt.

In Japan selbst war die große Zeit dieser Filmemacher aber schon am Absterben. Die ruhige Empfindlichkeit musste der Hysterie weichen. Gewalt und Sex zogen die Menschen in die Kinos – oder vielmehr die Männer, während Ehefrauen zu Hause vor den Fernsehern blieben. Das Auseinanderbrechen des traditionellen Familiengefüges, das war langweilig und vor allem schwermütig. Damit konnte die Jugend nicht in die Kinos gelockt werden. Es gab Ausnahmen wie das bunte Popart-Gemetzel Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb oder Horrorfilme wie Seance oder Dark Water, die sich den alten Themen auf neue Weise näherten, oder es gab Filme wie Liebe braucht keine Worte oder Nobody Knows, die sich aktuellen Themen mit der Palette der alten Meister näherten, aber das breite Publikum verlangte und verlangt anderes.

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Ozu und Naruse
Angefangen hatte alles in den 20er Jahren als Shochiku in die Filmbranche drang und in Tokyo ein Studio eröffnete. Sie gaben dort Regisseuren eine Chance, die genug hatten von den ewig gleichen Theaterverfilmungen und die ihre eigene Filmsprache erfinden wollten. Die Hollywood nachahmten, Schauspieler ohne Theatererfahrung zu Stars machten und die ihre Kamera mit auf die Straßen nahmen, statt nur in Kulissen zu drehen. Moderne Filme wollten sie machen und dieses Studio im Stadtteil Kamata, nach dem der sich entwickelnde Stil benannt werden sollte, wurde zur Talentschmiede. Yasujirō Shimazu war der Vater dieses Stils und auf ihn folgten etliche Schöpfer wunderbarer shōshimin-eiga wie beispielsweise Hiroshi Shimizu, der vor allem für seine Reisefilme wie The Masseurs and a Woman geschätzt wurde. Doch vor allem zwei Regisseure sollten all diese in den Schatten stellen: Mikio Naruse und Yasujirō Ozu.

Im Gegensatz zu den schnell geschnittenen chambaras der Zeit mit ihrer atemberaubenden Kameraarbeit, konzentrierten sich die beiden auf die Menschen. Sie erzählten ihre Geschichten mit den Gesichtern ihrer Darsteller, mit Details des Raumes oder der Kleidung und arbeiteten statt mit Kamerafahrten vor allem mit Schnitten, um die Informationen in ihren statischen Einstellungen zu verbinden. Je älter sie wurden, je mehr sie ihren Stil verfeinerten, umso kärger wurden ihre Mittel. Aber doch waren sie Zauberer, die unter der Oberfläche ihrer auf den ersten Blick uninteressanten Bilder ganze Welten erschufen.

Seitdem Ozu in den 60ern im Westen “entdeckt” wurde, gibt es einen Witz, wonach niemand seine Filme auseinanderhalten kann. Er arbeitet wie bei Haikus mit Stimmungen. Seine Werke tragen Namen wie Früher Frühling, Sommerblüten oder Ein Herbstnachmittag und handeln oft von Vätern, die ihre Töchter verheiraten wollen, was an den unterschiedlichen Lebensentwürfen der Generationen in einem sich schnell verändernden Land zu scheitern droht. Paul Schrader hat in seinem Buch über Ozu, Bresson und Dreyer nachgezeichnet, wie Ozu sich auf Zen-Buddhismus und alte japanische Zeichentechniken beruft und war damit bei weitem nicht alleine. So stand dieser immer im Verdacht als “japanischster aller japanischen Regisseure” existenziell für ein westliches Publikum verschlossen zu sein. Doch vielleicht ist er der universellste aller japanischen Filmemacher. Sicherlich sind sie nicht immer ganz einfach, aber wir sollten uns beim Schauen dieser Filme wohl mehr auf unser Sitzfleisch verlassen, statt uns vorschnell vom fremden Aussehen und von fremden Gepflogenheiten verschrecken zu lassen. Seine Büroangestellten, Eltern und junge Erwachsene lebten in modernen Gesellschaften, die er wie Gefängnisse inszenierte. Gefängnisse, die sich von unseren nur marginal unterschieden.

Gegen Ende seiner Karriere nutze er fast nur noch Abwandlungen von 4 Einstellungen: Menschen von Kopf bis Hüfte frontal aufgenommen, Panoramaansichten, Räume mal mit, mal ohne Menschen und Gänge von Gebäuden. Die letzten beiden vor allem aus Sicht eines traditionell auf dem Boden sitzenden Menschen. Wir sehen also alles wie ein unsichtbarer, zu Passivität gezwungener Voyeur, der Menschen zuschaut, welche die Ruhe des Alltags nicht stören wollen und deshalb schlucken, schlucken und schlucken. All die vorgetragene Harmonie in seinen Filmen ist nur Oberfläche. Statt wie in den Melodramen eines Keisuke Kinoshita (Eine japanische Tragödie), der die Menschen in Hollywoodmanier unter einem Schicksalsschlag nach dem anderen zusammenbrechen ließ, schwelt es hier unter der Oberfläche und die Menschen schleppen sich durchs ein ihnen entfremdetes Leben. Das hört sich hart an, aber im Grunde seines Herzens war Ozu immer ein nachsichtiger Clown, der seine Figuren und Zuschauer mit einem Moment mono no aware aus seinen bisweilen sogar witzigen Filmen entließ. Die Leute in ihnen brechen irgendwann zusammen. Sie weinen plötzlich, zeigen Gefühle und die sich lösenden Spannungen schaffen ein transzendentales Gefühl der tiefen Einsicht in die Schönheit der Dinge. Nichts hatte sich geändert, nur die Einstellung zu den Dingen. Es sind Wohlfühlfilme, der etwas anderen Art.

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