Jailbreak - Kambodscha legt mit dem Actionreißer sein The Raid vor

13.10.2017 - 11:00 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
JailbreakKongchak Pictures
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Im Actionfilm Jailbreak müssen sich ein paar Polizisten durch einen Gefängnisaufstand prügeln, während der Dokumentarfilm Caniba in die Poren eines realen Kannibalen entführt.

Ab wann verlässt man vorzeitig das Kino? Wenn man merkt, dass die Kannibalendoku zu 60 Prozent aus teils unscharfen Detailaufnahmen eines Gesichts besteht? Nach den Aufnahmen aus einem pornografischen Film mit dem Täter als Hauptdarsteller? Nachdem sein Bruder bei masochistischen Praktiken mit Stacheldraht und Messerspitzen gezeigt wird? Nach den schwarz-weißen Heimvideos der beiden als süße kleine Kinder? Viele Zuschauer suchten beim Dokumentarfilm Caniba beim Filmfestival in Sitges das Weite. Verständlicherweise. Mich ließ der Film mit einem ausgesprochenen Weltekel zurück und dem Wunsch, 24 Stunden kein menschliches Gesicht zu sehen (was bei einem Filmfestival, sagen wir, schwer umzusetzen ist). Glücklicherweise wurde der kambodschanische Action-Reißer Jailbreak als filmische Erlösung der Festivalgötter herabgesandt, die verhinderte, dass meine Träume vom Gesicht Issei Sagawas bevölkert wurden.

Jailbreak wird vom Vergleich zu The Raid wohl für den Rest seiner Tage verfolgt werden und wenn das ein paar mehr Zuschauer dazu bringt, einem kambodschanischen Actionfilm eine Chance zu geben, dann sei es so. Die Grundzutaten erinnern in der Tat an den indonesischen Kracher von Gareth Evans, der unter anderem dazu führte, dass Hauptdarsteller Iko Uwais eine Rolle in Star Wars: Episode VII - Das Erwachen der Macht erhielt. Ein Satz, der leicht zu schreiben und noch immer schwer zu glauben ist. Jailbreak ist nun ein bewusster Versuch, die Genrevielfalt im sich aufrappelnden kambodschanischen Kino zu erweitern. Bei der dortigen Zuschauerschaft finden heimische Actionfilme kaum Gefallen, verbreiteter sind romantische Komödien. The Raid brachte die Martial Arts-Talente in Indonesien für ein weltweites Publikum zum Vorschein. Silat wurde unter Genre-Fans zum Begriff. Mit dem kambodschanischen Kampfstil Bokator wird ähnliches in kleinerem Rahmen angestrebt. Wie auch bei The Raid sitzt ein Expat auf dem Regiestuhl, der Italiener Jimmy Henderson, dessen Drehbuch ein paar Polizisten auf engstem Raum gegen eine Übermacht antreten lässt. Diesmal ist es kein Hochhaus, sondern ein Gefängnis. Ein Gangster wird eingeliefert und alle anderen wollen ihn tot sehen. Die Polizisten geraten dazwischen. Schusswaffen haben sie keine. Der Kampf wird "old school", wie an einer Stelle stolz angekündigt wird. Ein Versprechen, das eingehalten wird.

Das beste an Jailbreak ist aber, wie wenig er The Raid ähnelt. Bleiben wir bei Evans und Uwais, liegt der The Raid-Vorgänger Merantau im Verwandtschaftsverhältnis nämlich näher. Weniger poliert und stylisch in der Inszenierung, wirkt Jailbreak roher als das große Vorbild, wobei er dessen Brutalität nicht nachahmt. Die Dialogszenen fallen etwas hölzern aus, auch weil in drei verschiedenen Sprachen gesprochen wird, allerdings kommt der Film ohne Umschweife zum Punkt. Sobald die ersten Schläge ihr Ziel erschüttern, findet Jailbreak zu sich selbst: rasante, entschlackte Martial Arts-Action mit einem Schuss Humor.

Die beträchtlichen Kampftalente der Darsteller um Stuntman Jean-Paul Ly, Dara Our (der für die Choreografie verantwortlich zeichnet) und MMA-Kämpferin Tharoth Sam werden in langen, ständig variierten Einstellungen eingefangen. Die Kamera sprintet bei den Massenschlägereien förmlich von Kämpfer zu Kämpfer und wieder zurück, unterstützt von ein paar geschickten Schnitten und Reißschwenks. Gleichermaßen dynamisch wie übersichtlich, zeigt sich hier ein originelles Verständnis für die Schauwerte der Martial Arts-Choreografie. Der fluffige Ton des Films, in dem ein Kannibale für Lacher sorgt und Savin Phillip als Gangster, der an dem Trubel Schuld trägt, die meiste Zeit nach einer Toilette sucht, findet sich auch in manchen Action-Einlagen wieder. Wenn es hart auf hart geht, trifft Jailbreak den richtigen Ton. Für ein paar visuelle Späße bleibt jedoch auch Zeit. So entwickelt der Film seinen eigenen Kopierschutz, schließlich wirkt er zu keinem Zeitpunkt berechnend, sondern punktet als genuin aus seiner heimischen Filmkultur hervorgegangener Publikumsliebling. Von Jimmy Henderson, Dara Our und Kollegen werden wir hoffentlich noch mehr hören und sehen.

Monster luken in Sitges während des Filmfestivals aus jeder Ecke hervor. Aus den Schaufenstern von Fleischerläden blicken einen vampirische Schweine an, in Juweliervitrinen liegen abgehackte Hände und gammelige Füße und - mein persönlicher Favorit - über einem der Restaurants thront eine Zeichnung von Gary Oldmans uraltem Dracula aus dem Francis Ford Coppola-Film. Liebe zum Film, zum Festival und zum Tourismus abseits der Hauptsaison verwandelt die Innenstadt von Sitges jedes Jahr im Oktober in ein Mekka des phantastischen Films. Das Festivalzentrum mit zwei Kinos thront in einem Hotelkomplex über der Küste, der, mit etwas Fantasie, als moderne Stufenpyramide auf die Stadt herabblickt. Auf dem Weg dorthin, um Caniba zu sehen, stolperte ich gestern sogleich in einen Monsterfilm. Tatsächlich wurde mit einem Kran und Marionettenkünsten ein mehrere Stockwerke hoher Monsteraffe über die Promenade gefahren, begleitet von Scharen Schaulustiger/zukünftiger Opfer/gläubiger Diener. Der Riesenaffe greift im Festivaltrailer vor jedem Film die Stadt an, was die Zuschauer stets begeistert applaudieren. Beim gestrigen Event, in dem dies halbe Wirklichkeit wurde, lernte ich sogleich, welcher Typ Roland-Emmerich-Figur ich in einem Katastrophenfilm wäre, namentlich Kameramann Hank Azaria, der Godzilla filmt, bis er sich unter dessen Plattfuß wiederfindet.

Was alles nur eine Ausflucht ist, um nicht über Caniba schreiben und sich erinnern zu müssen. Die beiden Anthropologen Verena Paravel und Lucien Castaing-Taylor widmen sich nach der hypnotischen Fischfangodyssee Leviathan dem realen Kannibalen Issei Sagawa, der in den 1980er Jahren eine niederländische Kommilitonin in Paris ermordete und Teile ihrer Leiche verspeiste. Über Umwege der Rechtssprechung zweier Länder entging er einer Gefängnisstrafe und wurde in Japan zu einer notorischen Berühmtheit, mit der er in den Jahren nach der Tat seinen Lebensunterhalt bestreiten musste. An den Folgen eines Schlaganfalls leidend, wird Issei Sagawa im Film von seinem Bruder Jun gepflegt. Beide wurden "wie Zwillinge" aufgezogen, heißt es einmal, nun liegt der unscharfe Schatten seines notorisch berühmten Bruders über Jun, was im Film bildlich gemeint ist. Zu großen Teilen besteht Caniba aus beinahe unerträglich nahen Interview-Aufnahmen, in dem jede Talgdrüse von Issei Sagawa katalogisiert wird. Biografische Details und ähnliche Erklärungsversuche bleiben rar. Dem reflexartigen Zuschauerverlangen nach dem "Warum" wird mit einer diffusen Mischung aus Selbsthass und dem Wunsch nach Vereinigung mit und damit schließlich Kontrolle über Schönheit begegnet. Psychologisierende Annäherungen dieser Art bleiben dem Täter überlassen und fragmentarisch. Als Doppelporträt von Sagawa und seinem Bruder bietet Caniba eher Einblick, da die Präsenz seines Bruders Juns Leben und Persönlichkeit offensichtlich ins Bizarrste verformt hat. Jun selbst richtet die Gewalt zur Lustgewinnung seit Kindertagen gegen sich selbst, reibt Edelstahl-Stacheldraht über seinen rechten Arm und penetriert diesen mit Messerspitzen.

Caniba gerät mit diesem Porträt automatisch in Verdacht der Überhöhung eines Verbrechers und kann diesen nicht vollends abschütteln. Auch weil die Perspektive sowohl inhaltlich als auch formal derart begrenzt ist. So sehen wir das Gesicht des Opfers Renée Hartevelt nur in der Interpretation des Täter, die Perspektive der Hinterbliebenen wird ausgeblendet. Stattdessen blättert Jun durch ein Manga, in dem sein Bruder die Tat in grafischen Details nachzeichnet. Bis über ihren Tod hinaus erhält Issei Sagawa die symbolische Macht über den Körper seines Opfers, er zeichnet ihn, stellt ihn bloß, zerstört ihn auf Papier erneut. Caniba ist darin als popkulturelles Produkt neben dem Manga oder dem von der Tat inspirierten The Stranglers-Song letztlich behilflich, so faszinierend, abscheulich und bisweilen erhellend die Dokumentation sein mag.

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