David Finchers Erfahrung im Serienbereich sind gleichermaßen vom Erfolg verwöhnt wie zum Scheitern verurteilt. Als erster namhafter Regisseur verhalf er Netflix Anfang 2013 mit House of Cards nicht nur zur ersten vollständig eigenproduzierten Serie, sondern zu einer der bis heute erfolgreichsten Serien des Streaminganbieters überhaupt. Seine Zusammenarbeit mit HBO dagegen kam selbst nach mehreren Anläufen nie in die Gänge. Sowohl das Remake der britischen Serie Utopia als auch die vielversprechenden Serien Shakedown und Videosyncrazy konnten unter dem Dach des prestigeträchtigen Senders nie umgesetzt werden. Eine tragische Entwicklung, die David Fincher viel Zeit gekostet hat. Sein Interesse am seriellen Erzählen hat er trotzdem nicht verloren. Im Gegenteil: Mit Mindhunter stürzt er sich erneut in eine Welt, die von Episode zu Episode wächst und thematisch kaum näher an seinem Œuvre sein könnte.
Basierend auf dem Buch Mind Hunter: Inside The FBI’s Elite Serial Crime Unitwritten von Mark Olshaker und John E. Douglas entführt Mindhunter in die ausgehenden 1970er Jahre und rückt einen FBI-Agenten in den Mittelpunkt des Geschehens, dessen Arbeit kaum unspektakulärer Ausfallen könnte. Entgegen dem romantisierten Bild eines einsamen Mannes, der in riskanten Einsätzen sein Leben aufs Spiel stellt und am Ende Ruhm und Ehre als Dank für seine tapfere Risikobereitschaft erntet, ist Holden Fort (Jonathan Groff) ein eher unauffälliger Zeitgenosse. Vor allem aufgrund seines Vermögens der Kommunikation genießt er einen guten Ruf beim FBI. Als Teil der Behavirol Science Unit tritt er bei Verhandlungen im Fall einer Geiselnahme auf. Hauptsächlich kümmert sich Holden aber um die Ausbildung des Nachwuchses. Seine Anliegen und Verbesserungsvorschläge stoßen dabei für gewöhnlich auf taube Ohren.
Holden entpuppt sich als idealer Protagonist, der auf der einen Seite sehr sicher ist, in dem, was er tut, auf der anderen Seite allerdings von einer großen Unsicherheit im echten Leben begleitet wird. Durch seinen unverbesserlichen Idealismus und seinen aufrichtigen Charakter gelingt es Holden zwar, die zweite Eigenschaft in den meisten Fällen zu kaschieren, schon bald soll er in der von Joe Penhall und John Douglas geschrieben Serie aber an seine eigenen Grenzen stoßen. Dass Holden diese nicht erkennt, passt perfekt ins größere Bild von Mindhunter: Bereits innerhalb der ersten zwei Stunden entwickelt die Geschichte einen unglaublichen Sog, der nicht nur uns Zuschauer an die Bildschirme bindet, sondern ebenfalls die Figuren auf ihrem Weg in ein Labyrinth begleitet, aus dem es in absehbarer Zeit kein Entkommen mehr gibt. Die Neugier treibt jeden von uns immer tiefer in dunkle Gassen und verworrene Gänge. Denn die Menschen wollen das Unfassbare fassen können.
Mindhunter will zum Kern eines Verbrechens vordringen, sprich: die Psychologie des Täters ergründen. Es geht um das Verstehen, nicht um das Dominieren, wie es Holden gegenüber seinen Schülern in Worte fasst. Er ist einer der wenigen Menschen, die den Schrecken der Welt als Resultat selbiger sehen. Menschen werden nicht als Killer geboren, sondern durch ihre Umwelt geformt. Eine These, die im Amerika der 1970er Jahre auf wenig Gegenliebe stößt, insbesondere bei den Polizisten, die am Ende ihrer Kräfte versuchen, grauenvolle Morde aufzuklären, die jeglicher Rationalität entsagen. Plötzlich gibt es nicht mehr nur Schwarz und Weiß, sondern eine ganze Bandbreite dazwischen, auf der sich Menschen bewegen, die nicht in Schubladen passen und dennoch in einer Gesellschaft leben, die nur durch solche geordnet werden kann. Spätestens an diesem Punkt gelangt Mindhunter an verborgene Abgründe die eine hypnotische Faszination ausüben.
Als würden sich die Abgründe von Sieben und Zodiac - Die Spur des Killers vereinen, verliert sich Mindhunter in der Laune des Verbrechens, sodass die Figuren mit der Sicherheit der Kontrolle in Fallen tappen, die selbst dem geschulten Auge eines Psychologen entgehen. Wenn Holden nähere Bekanntschaft mit dem mehrfachen Mörder Edmund (Cameron Britton) macht, der unaussprechliche Taten begangen hat und nicht müde wird, sich - überaus eloquent - darüber zu äußern, lässt er sich von dessen vermeintlicher Offenheit einlullen. Und das trotz der Warnung seitens seines abgebrühten Kollegen Bill Tench (Holt McCallany), der Manipulation vermutet. Gleichzeitig können wir uns im Fall von Mindhunter nie sicher sein, ob es am Ende nicht sogar (oder besser: höchstwahrscheinlich) wir Zuschauer sind, die ahnungslos im Dunkeln tappen und sich von der Inszenierung haben täuschen lassen. So aufmerksam observierend David Fincher den Figuren folgt - was sind die Details, die er uns nicht verrät?
Mindhunters stellt viele logische Schlussfolgerungen offen in den Raum, immer wieder passiert es jedoch, dass die Figuren trotz umfangreicher Ausbildung und reichlich Fachwissen ratlos in der Gegend umherblicken und eingeschüchtert vor dem unberechenbaren Handeln ihres (metaphorischen) Gegenübers erschaudern. Je intensiver die Figuren versuchen, sich in den Kopf des Killers einzudenken, desto größer wird die Angst davor, nichts zu verstehen. Mindhunter wird geradezu durchflutet von dieser Angst und offeriert im Gegenzug Einblick in die verheerenden Folgen eines solch beklemmenden Zustands. So ist es Angst, die einen Geiselnehmer dazu veranlasst, sich selbst das Leben zu nehmen. Die gleiche Angst ist wiederum dafür verantwortlich, dass Polizisten in stressigen Situation voreilige Urteile fällen. Und schlussendlich ist es auch die Angst, die die Gesellschaft spaltet und Misstrauen unter Parteien sät, die eigentlich vereint in den Kampf ziehen sollten.
Mindhunter verwandelt sich durch diese präzisen Beobachtungen nicht nur in ein spannendes Thriller-Drama, sondern erzählt ebenfalls eine Geschichte über Institutionen wie dem FBI und deren Interaktion mit den Menschen eines Landes, das sich auch zu jener Dekade offensichtlich im Zwiespalt mit sich selbst befindet. Es sind also mehrere Ebenen, auf denen die Geschehnisse von Mindhunter stattfinden, was erwarten lässt, dass in den kommenden Episoden ein genauso großes wie erschütterndes Porträt gezeichnet wird. So klein und spezifisch die Handlung und ihre Figuren auf den ersten Blick wirken, so facettenreich werden im Hintergrund Themen verhandelt, die Mindhunter zu deutlich mehr als der nächsten krassen Serienkiller-Serie machen. Wenn Holden und Bill mit einem grausamen Fall konfrontiert werden, öffnet dieser den Vorhang in ein Kaleidoskop menschlicher wie gesellschaftlicher Abgründe.
Die 1. Staffel von Mindhunter ist ab heute, dem 13.10.2017, komplett auf Netflix verfügbar. Als Grundlage für den Serien-Check dienten die ersten zwei Episoden.