Ich könnte jetzt darüber schreiben, wie ich mir gestern morgen im Kinosaal heißen Kaffee übers T-Shirt geschüttet habe. Kennt ihr das, wenn euch im Kino etwas peinliches passiert und ihr möglichst bewegungslos versucht, es zu vertuschen? Aber ich wollte ja nicht darüber schreiben, denn am Donnerstag gab es mit sechs Filmen mal wieder ein volles Programm. Dessen Höhepunkt war zweifellos die Dokumentation Public Speaking von Martin Scorsese. Ansonsten tauchten (schon wieder) Metalheads und (schon wieder) perfide Kids auf den Festivalleinwänden auf.
Väterliche Metal-Nonnen
Fangen wir mit den Nonnen an. Black Field ist das Debüt des griechischen Regisseurs Vardis Marinakis, das im 17. Jahrhundert erzählt ist. In überstilisierten Bildern erinnernd an Walhalla Rising, wird darin eine Nonne von einem verletzten Soldaten verführt. Was sich jetzt anhören mag wie ein billiger Liebesroman, wirkt in der ersten Hälfte auch so, nur eben eingebettet in prachtvolle Bilder mit einem Arthouse-Touch. Der Twist, der hier nicht verraten wird, verleiht dem schließlich eine Prise Tiefgang, wobei das Endergebnis trotzdem nicht in Gänze überzeugt.
Ebenfalls mit einem plötzlichen Umschwung in der Atmosphäre ausgestattet, ist der slowenische Beitrag Dad. Jene Wendung lässt das ganze zuvor Gesehene in einem anderen Licht erscheinen. Doch im Falle der sensiblen Beobachtung eines Vater-Sohn-Verhältnisses überwiegt die Stärke des ersten Teils. Dessen Gespräche zwischen Vater und Sohn beim Angeln oder auf einer Wiese werden in einer Art traumartigen Realismus eingefangen, der zu fesseln vermag. Zudem hat Dad einige der schönsten Überblendungen zu bieten, die das Kino der letzten Jahren zu bieten hat.
An die eher ernsten Vorgänger schloss sich der skurrile Marimbas From Hell aus Guatemala an. Die Grundidee: Der absolut seriöse Don Alfonso ist ein Meister des Spiels auf der Marimba, einer Art guatemaltekischem Xylophon. Zusammen mit ein paar Bekannten gründet er aus Geldnot eine Metalband. Marimbas From Hell wäre ein sozialkritischer Dokumentarfilm mit viel Witz, wenn nicht große Teile wie gestellt wirken würden. Sicherlich verschwimmen heutzutage die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation immer öfter. Wären die Marimbas From Hell eindeutig als Spielfilm gekennzeichnet, hätte ich wohl nichts zu kritisieren. So allerdings stieg zumindest mir ständig der Gedanke auf: Haben sie das jetzt nur gespielt? Solche Fragen können der Wirkung einer Doku nur Schaden zufügen.
You killed Bambi!
Seine Gangsterepen werden auf ewig mehr Aufmerksamkeit bekommen. Public Speaking ist trotzdem ein neuer Beweis dafür, dass Martin Scorsese ein Meister des dokumentarischen Porträts ist. Mit Porträts meine ich jedoch nicht die handelsübliche Abhandlung “er wurde geboren, er erarbeitete sich einen Wikipedia-Eintrag, er starb”. Martin Scorsese lässt die Subjekte seines Interesses selbst reden, so auch die beredte Fran Lebowitz, amerikanische Schriftstellerin und endloser Schatz von Zitaten für jede Lebenslage. Selbst wenn einem der Name nicht geläufig ist, erweist sich Public Speaking dank der charmant besserwisserischen Art der Dame als erstklassige Unterhaltung. Ob der Wandel New Yorks oder den Niedergang der amerikanischen Kultur – kein Thema ist vor Fran Lebowitz sicher. Obwohl ich ihren Namen vorher nicht einmal kannte, wäre ich nach dieser Doku verdammt gern mit Frau Lebowitz einen Trinken gegangen.
Auf den Altmeister Martin Scorsese folgte wieder ein Debütant. Yoon Sung-hyun heißt der junge Südkoreaner, der mit Bleak Night einen ziemlich selbstbewussten Erstling vorgelegt hat. Der Zerfall einer Freundschaft wird thematisiert. Wie es zum Tod eines Schülers kam und wie dessen Freunde davon beeinflusst wurden, fädelt Yoon in einer vielschichtigen Erzählung auf, die fließend zwischen mehreren Zeitebenen wechselt. Zu Beginn ist das noch etwas verwirrend. Doch schon bald wird das Netz aus kleinen und großen Kränkungen ersichtlich, die zu einer fatalen Gruppendynamik führen. Das Fazit zu Bleak Night in zwei Sätzen: (1) Korea macht Japan Konkurrenz, wenn es um Filme über das Grauen der Jugend geht. (2) Koreaner scheinen unfähig zu sein, eine Geschichte in den guten alten 90 Minuten abzuarbeiten.
Den Abschluss des Tages bildete die aufwendige italienische Dokumentation The Castle. Deren Macher drehten ein Jahr lang auf dem Flughafen Mailand Malpensa, durften wie kaum ein Filmteam zuvor hinter die Kulissen schauen. Das hier ist keine Kabel 1-Doku über coole Zollmitarbeiter. Stattdessen bekommen wir einen Sicherheitsmann zu sehen, der einfach so die Kurznachrichten eines Nigerianers durchschaut. Die wortlose Beobachtung der statischen Kamera zeigt auf, wie am Flughafen der gläserne Mensch längst existiert (ganz ohne Nacktscanner) und schildert ebenso den ganz normalen Alltag. Der besteht eben daraus, dass ein paar Männer den Großteil ihrer Zeit damit verbringen, Vögel zu verscheuchen. Ein dermaßen umfassender Blick auf die Arbeitsweise an einem internationalen Flughafen dürfte eine Ausnahmeerscheinung darstellen. Allein deswegen ist die Doku sehenswert. An Humor fehlt es ihr glücklicherweise nicht.