Stöhnen. Entsetztes Kichern. Das Rascheln mehrerer Jacken, die fast gleichzeitig vors Gesicht gehalten werden, um bloß nicht mitansehen zu müssen, was für eine Schönheitskur als Nächstes ansteht. Das beschreibt die zu erwartende Geräuschkulisse im Publikum der norwegischen Horror-Komödie The Ugly Stepsister.
Darin wird das Grimm'sche Märchen von Aschenputtel mit einem Twist erzählt, der Maleficent und Elphaba aus Wicked stolz machen würde. Allerdings geschieht das mithilfe der körperlichen Zersetzungserscheinungen eines The Substance. Nach seiner Sundance-Premiere, bei der sich eine Person im Saal angeblich übergeben musste, darf sich das Publikum bei der Berlinale der hässlichen Stiefschwester stellen.
Eine Märchen-Bösewichtin wird zur Heldin in The Ugly Stepsister
Jedes Kind kennt die Geschichte: Der Vater von Aschenputtel a.k.a. Cinderella heiratet eine Witwe mit zwei Töchtern, die sich gemeinsam als biestiges Trio erster Güte herausstellen. Weil das Mädchen im Gegensatz zu ihnen so gütig ist, darf es dank magischer Intervention auf einem Ball dem Prinzen den Kopf verdrehen und um Mitternacht verschwinden. Nur ein Schuh bleibt zurück.
In The Ugly Stepsister gibt es ebenfalls ein Aschenputtel, aber das muss im Haushalt schuften, weil es mit dem Stallburschen im Heu zu Gange war. Hauptfigur ist nicht die blonde Perfektion in Person namens Agnes (Thea Sofie Loch Næss), sondern die pausbäckige und großäugige Elvira (Lea Myren), die mit ihrer herrischen Mutter und ihrer kleinen Schwester ins Anwesen einzieht. Ein Film, der endlich eine positive Stiefmütter-Agenda unters Volk bringt, ist das nämlich nicht.
Elvira ist ein liebes, schüchternes Mädchen mit Zahnspange, ihre Mutter aber will sie verheiraten, um an Geld zu kommen. Also unterzieht sie Elvira einem quälenden Makeover, bei der ihre Nase gebrochen wird und Wimpernbüschel mit der Nadel in ihre Lider genäht werden. Was wir alles en détail beobachten dürfen. Elvira hilft fleißig mit, in dem sie zwecks Abnehmkur heimlich ein Bandwurm-Ei schluckt. Denn sie träumt ebenfalls von einem sonnigeren Leben mit Märchenprinz Julian (Isac Calmroth).
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Das Horror-Märchen beeindruckt mit drastischen Effekten und einer skurrilen Atmosphäre
Die Ehrenrettung einer Märchen-Bösewichtin reißt anno 2025 niemanden mehr vom Hocker. Dasselbe gilt für die Erkenntnis, dass Schönheitsideale einen grausamen Druck auf junge Frauen ausüben. Insofern erfindet The Ugly Stepsister das Horror-Rad nicht neu. Andererseits lockt der Film mit einer betörend anachronistischen Atmosphäre aus Zooms und Synthies. Deshalb wohnt ihm der Charme eines wieder entdeckten Märchenfilms aus den 70ern inne – der verboten wurde, weil er massenweise Kinder verstört hat.
Was an Originalität oder wirklich subversiven Ideen fehlt, wird durch die drastischen Horror-Effekte wettgemacht. Elvira-Darstellerin Lea Myren kann dabei nicht genug gelobt werden. Der Kontrast zwischen den ekelerregenden Qualen und ihrer herzallerliebsten Naivität treibt The Ugly Stepsister voran. Vor allem gelingt es ihr im Verbund mit der norwegischen Regisseurin Emilie Blichfeldt, die Tortur nicht zum Selbstzweck verkommen zu lassen. Elvira macht Furchtbares durch in dem Film, aber ins Mitleid mischt sich dank der grotesken Ideen und des durch und durch schwarzen Humors immer auch ein Lacher.
The Ugly Stepsister wurde in der Sektion Panorama bei der Berlinale gezeigt. Der Film kommt am 5. Juni 2025 in die deutschen Kinos.