Als Ende Februar 2024 die ersten Bilder zu Rupert Sanders’ The Crow erschienen, stand für das Internet schnell fest, dass der Film nichts werden kann. Spätestens mit dem Trailer knapp ein Monat später war das Urteil dann endgültig gefallen: zu emo, zu sehr Jared Leto-Joker und zu verschieden zum Film von 1994 - The Crow24 ist ein weiteres Remake/Reboot, das kein Mensch braucht!
Der Fantasy-Film ist nicht perfekt, aber auch keine Vollkatastrophe
Jetzt, nachdem The Crow in den Kinos angelaufen ist, dürften sich all seine Vorab-Kritiker endgültig bestätigt fühlen. Denn die Kritiken und Zuschauer-Meinungen zum Film sind verheerend (via Digital Spy ). Von "einem der schlechtesten Filme des gesamten Jahrtausends", der "nicht viel mehr macht als das Original regelrecht zu beschmutzen" ist dort u.a. die Rede . Der Film sei langatmig, seine Liebesgeschichte unglaubwürdig. Er wirke wie von einem Teenager in seiner Trotzphase erdacht und Bill Skarsgård und FKA Twigs hätten null Chemie.
Ja, The Crow ist nicht frei von Fehlern, aber eben auch weit davon entfernt, eine unanschaubare Vollkatastrophe zu sein. Denn wenn das junge Paar in Unterwäsche liebestrunken durch die Designer-Wohnung tollt oder Eric sich durch Shellys Kleiderschrank probiert, dann hat das schon einen Vibe. Wie es eben auch seinen Reiz hat, sich mal wieder in seine Teenagerzeit zurückzuversetzen – sich genussvoll im (Herz)Schmerz zu suhlen und von einer pathetischen Once-in-a-Lifetime-Goth-Romanze zu träumen. Der Film weiß von diesem Reiz, seine Kritiker anscheinend nicht. The Crow24 mag an "eine von pseudo-tiefgründigen Tumblr-Zitaten angestachelte Fantasie eines 14-Jährigen" erinnern (Zitat Kino-Zeit ), aber: so what?
Die schlechten Reaktionen sind eine selbsterfüllende Prophezeiung
Daneben hat der ehemalige Werbefilmer Rupert Sanders (Ghost in the Shell) durchaus ein Händchen für stil- und stimmungsvolle Bilder. Der Ansatz, die Lovestory zwischen Eric und Shelly mehr in den Fokus zu rücken, ist so interessant wie nachvollziehbar. Der erhöhte Gewalt-Grad (die Opernsequenz!) ist ein Fest für jeden Edgelord. Und wenn die beiden frisch verliebten zu Joy Divisions "Disorder" aus der Entzugsklinik abhauen, während Ian Curtis "I've been waiting for a guide to come and take me by the hand" singt, kann man das ruhig unironisch gut finden.
Es stellt sich daher die Frage: Wären die, die den Film bereits im Vorfeld so verrissen haben, jetzt überhaupt bereit dazu gewesen, seine Qualitäten anzuerkennen? Die gibt es nämlich auf jeden Fall!
Remake, Reboot, Re-Imagination: The Crow sollte man bestenfalls als eigenständigen Film verstehen
Kompliziert wird es bei der Frage, in welchem Verhältnis Sanders' Film nun zu James O’Barrs Graphic Novel von 1989 und Alex Proyas' Film The Crow - Die Krähe von 1994 steht. Denn Sanders wird nicht müde zu betonen, dass es sich bei seinem Film nicht um ein Remake von Proyas' handelt, sondern um seine Adaption von O’Barrs The Crow. Laut eigener Aussage gegenüber EW ist er seit jeher ein großer Verehrer des Comics, was sich u.a. darin äußert, dass Erics Look (nackter Oberkörper, langer Ledermantel) sowie das Katana direkt aus diesem stammen.
Zeitgleich erlaubt sich sein Film aber noch mehr Freiheiten im Umgang mit der Vorlage, als es Proyas’ Film bereits tat. Es sei daher empfohlen, Sanders’ Film, so wie er es auch gegenüber ntv empfiehlt, vorrangig als eine "Neuinterpretation der Crow-Mythologie" zu verstehen. Denn wer The Crow24 weniger als eine Eins-zu-Eins-Umsetzung von O’Barrs Werk versteht, sondern vielmehr als einen eigenständigen Film, der etwas Eigenes aus dem Geist der Graphic Novel heraus schaffen möchte, wird am ehesten das Tolle an diesem erkennen können.
Proyas' und Sanders' Filme sind daher schwer miteinander zu vergleichen. Wenn überhaupt, ließe sich behaupten, dass beide in vielerlei Hinsicht (Atmosphäre, Musik, Art Style) Kinder ihrer Zeit sind. Man kann Sanders' Entschluss, aus dem 90s-Rock-Eric mit dem Satanismus-Faible einen Soundcloud-Musiker im Stil von Post Malone oder Lil Peep zu machen, also ruhig nicht mögen. Diese Kreativ-Entscheidung hat mit Proyas' Film aber viel mehr gemein, als man anfangs annehmen würde.
Der neue The Crow ist ein Hoch auf die Adoleszenz
An einer Stelle des neuen Films spricht Eric Shelly auf das Buch an, das sie gerade liest. Es ist ein Buch von Arthur Rimbaud. Werk und Leben des bereits mit 16 berühmt gewordenen französischen Dichters sind geprägt von einer radikalen Abwehrhaltung gegen das Bürgertum, die Kirche und den Staat. Sein Schaffen kann im besten Sinne pubertär genannt werden.
Es ist daher auch schon sehr bezeichnend, dass man ihn ausgerechnet als Autor von Shellys Lektüre gewählt hat. Denn gleiches ließe sich auch über Sanders' The Crow behaupten. Besonders, wenn man bedenkt, dass die Pubertät ja die Phase im Leben eines Menschen ist, in der man gegen alle Formen der Mittelmäßigkeit ankämpft, in der kein Gefühl groß genug sein kann und man für die Dinge und/oder Menschen, die man liebt, bereit wäre, die ganze Welt niederzubrennen oder durch die Hölle zu gehen.
Viele Menschen blicken später als Erwachsene eher beschämt auf diese Lebensphase zurück. The Crow24 tut dies nicht. Er feiert widerstandslos die Adoleszenz. Und genau dies ist es auch, was wir vom Film mitnehmen können. Anstatt uns besonders erwachsen fühlen zu wollen, indem wir alles ablehnen, was uns irgendwie an die Pubertät erinnert, sollten wir wohl lieber lernen, den inneren Teenie zu channeln. Ein Film wie der neue The Crow erscheint so in einem ganz neuen Licht und kann einem sehr viel Freude bereiten.