Anthony Swofford, ein Soldat, der im Golfkrieg war, schreibt in seinem Buch Jarhead:
Es geht das Gerücht, dass viele Vietnamfilme Antikriegsfilme sind, mit einer Botschaft, Krieg ist unmenschlich und schaut euch an, was passiert, wenn man junge Amerikaner zum Töten und Morden ausbildet, dann verwandeln sie sich in Killermaschinen, vergessen ihre Ziele, entehren das ganze Land , schießen auf Autopilot und vergessen, dass sie zum Zielen ausgebildet wurden. Aber tatsächlich sind alle Vietnamfilme Kriegsfilme, ganz egal, wie die Botschaft lautet oder was Kubrick, Coppola oder Stone sagen wollten. Mr. und Mrs. Johnson in Omaha oder San Francisco oder Manhattan sehen sich diese Filme an und weinen und beschließen ein für alle Mal, dass Krieg unmenschlich und schrecklich ist, und sagen das ihrer Familie und auch all ihren Freunden in der Kirche, aber wenn Corporal Johnson im Camp Pendleton (...) und Lance Corporal Swofford in der Twentynine Palms Marine Corps Base sich dieselben Filme anschauen, macht es sie an, weil die magische Brutalität dieser Filme die schreckliche und widerwärtige Schönheit ihrer eigenen Kriegskunst verherrlicht. Kampf, Vergewaltigung, Krieg, Plünderung, Brand. Filmbilder von Tod und Verwüstung sind Pornografie für den Soldaten; sie reiben seinen Schw*** und kitzeln seine E**r mit der rosa Feder der Geschichte, geilen ihn auf für sein echtes Erstes Mal. Ganz egal wie viele Mister und Misses Johnson gegen den Krieg sind – die richtigen Killer, die wissen wie man mit Waffen umgeht, sind dafür.
(S. 15f. ISBN 3596161827, Film: Jarhead - Willkommen im Dreck )
Die Soldaten entheben der Botschaft des Regisseurs einfach die Grundlage – nämlich den Kontext Frieden – und setzen dafür ihren eigenen ein: den Krieg. So wird die Warnung vor den Gräuel zur ersten Kostprobe der bevorstehenden Machtausübung durch Waffen, die durch das eigene Land legitimiert wird. Der Einsatz von Waffen und die direkte Folgen, wie Zerstörung und Tötung, bereiten auf das vor, das da kommt. Je grausamer, desto mehr.
Dieses Rekontextualisieren – das Einsetzen eines fremden Kontexts, um die Bedeutung zu verändern – ist natürlich verallgemeinerbar und nicht nur auf die Gruppendynamik von Soldatentruppen beschränkt.
Deshalb ist ein Film, der in einem Schwerpunkt Kriegsgewalt zeigt, nie ein Antikriegsfilm.
Kategorien
Mit Hilfe dieses Kriteriums lassen sich zwei Kategorien voneinander abgrenzen:
Kriegsfilm: Die Darstellung von Kriegsgewalt ist ein visueller Schwerpunkt des Films.
Antikriegsfilm: Zeigt Folgen von Krieg ohne Kriegsgewalt als visuellen Schwerpunkt zu haben, den der Betrachter in Pro-Krieg rekontextualisieren könnte.
Beispiel Antikriegsfilm: Die letzten Glühwürmchen
Dies ist bei “Die letzten Glühwürmchen” jedoch nicht zu beobachten – bis auf ein paar wenige Szenen. Im Wesentlichen jedoch sieht man nur Folgen von Krieg und deren Folgen. In dem ganzen Film ist kein Soldat zu sehen, der schreiend in die Schlacht zieht. Es handelt sich um die Erzählung des Jungen Seita, der berichtet, wie er und seine Schwester den Krieg erlebt haben.
Das vertraute und liebevolle Miteinander der Geschwister trifft dabei immer wieder auf den Krieg und die durch den Krieg veränderten Menschen. Statt um das Leben in einer vertrauten Welt, geht es immer mehr um das Überleben in einer sich dramatisch verändernden Welt. Nicht nur ist die Nahrung knapp, auch werden sie überall mit dem Tod konfrontiert. Zudem begeht Seita eine große Dummheit, die nicht folgenlos ist.
So lässt der Film den Zuschauer Krieg erfahren – nicht durch eine Botschaft, sondern durch eine Geschichte – was wesentlich intensiver ist, als der erhobene Zeigefinger. Und der Zuschauer erfährt auch nicht, was die Macht der Waffe bedeutet, sondern was Krieg für Leben bedeutet.
Ein paar andere Beispiele
Thematisch ist auch das Buch “Im Westen nichts Neues” von Remarque ein Versuch, Krieg zu bewältigen und durch Narration erfahrbar zu machen. Leider wird die Kriegshandlung selber thematisiert und eine Botschaft – ein erhobener Zeigefinger – aufgebaut. Zudem wird die wirkmächtige Unterscheidung Soldat/Zivilist nicht aufgebrochen, sondern nur beschrieben, wie schwer sie zu überwinden ist. Dies wird auch in Filmen, wie Tödliches Kommando - The Hurt Locker beschrieben: Der Soldat kann nicht mehr aus dem Krieg zurückkehren, selbst wenn er wieder zu Hause ist. Der Hurt Locker ist quasi ein Schrank in dem man seine Verletzungen einschließt.Die Filmzwillinge “Letters from Iwo Jima” und “Flags of Our Fathers” von Clint Eastwood sind zwar Kriegsfilme, relativieren einander aber dadurch, dass sie das gleiche Geschehen aus zwei verschiedenen Perspektiven zeigen. Nur sind sie eben bloß zusammen eine Antikriegserfahrung – nicht jeder für sich allein. Und Rekontextualisierbar bleiben sie dennoch. Man muss sie also letztlich als Kriegsfilme bezeichnen, wenn wir der Argumentation hier folgen.
“Waltz with Bashir” arbeitet auch mit Erfahrungen – thematisiert sie aber als reflexive Betrachtung, nicht als Erfahrung. Der Protagonist erinnert sich aktiv, setzt sich der Erfahrung aus und führt den Zuschauer. Was ihn zumindest teilweise zum Kriegsfilm macht.
“Persepolis” behandelt auch den Einschnitt von Krieg in das Leben, reflektiert die Hintergründe des Krieges im Film aber stärker und kommt so von der Kriegserfahrung ab und fokussiert eher auf das Fremdsein.
Letztendlich scheint es, als gäbe es nur sehr wenige Antikriegsfilme.
Nachlese
Zur Rekontextualisierung elaborieren Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus in einer Kritik am Strukturalismus die Idee, dass die pragmatische Dimension eines Textes letztlich bedeutungskonstituierend ist. Versteht man Text wie Derrida, kann man dies leicht auf alle kulturellen Produkte wie Filme übertragen. Hieraus ergibt sich das eigentliche begriffliche Werkzeug.
In der psychologischen Beratung und Therapie wird Rekontextualiserung unter Anderem unter dem Begriff kognitive Umstrukturierung behandelt, die bspw. verwendet wird, um belastende oder schädliche Perspektiven zu verändern.