Ausnahmsweise nicht bei Netflix: Die mutigste deutsche Serie des Jahres vereint Black Mirror und Peniswitze

29.07.2021 - 15:00 UhrVor 2 Jahren aktualisiert
In Ich und die Anderen schlittert Tristan (Tom Schilling) von einer zwischenmenschlichen Extremsituation in die nächste.
Sky Deutschland/Superfilm/Ingo Pertramer
In Ich und die Anderen schlittert Tristan (Tom Schilling) von einer zwischenmenschlichen Extremsituation in die nächste.
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Die Sky-Serie Ich und die Anderen lässt Tom Schilling als unsicheres Arschloch Gott spielen und von einer absurden Situation in die nächste rutschen. Deutsche Serien haben lange nicht mehr so viel Spaß gemacht.

Eigentlich hat Tristan (Tom Schilling) alles: gutbezahlten Job, teuer eingerichtete Wohnung und eine hochschwangere Freundin (Katharina Schüttler als "Julia"), die das erste gemeinsame Kind erwartet. Trotzdem hat der Protagonist der neuen deutsch-österreichischen Sky-Serie Ich und die Anderen Probleme. Nicht unbedingt mit sich selbst, eher mit den anderen.

Er wünscht sich, endlich gesehen zu werden als der, der er ist. Als er eines morgens aufwacht, muss er feststellen, dass genau das eingetreten ist: Jeder kennt selbst seine dunkelsten Geheimnisse. Gemeinsam mit einem mysteriösen Taxifahrer versucht er, sein Leben in den Griff zu kriegen. Und da gibt es einiges in den Griff zu kriegen – vom Vater mit dem Riesenpenis über die nymphomane Nachbarin bis hin zum exzentrischen Chef (Lars Eidinger), der an einen Millennial-Stromberg auf Ketamin erinnert.

Ich und die Anderen bei Sky ist ein mutiges Serien-Experiment

Die erste der insgesamt 6 Episoden beginnt mit Tristan als gläsernem Menschen und erinnert durch seine Anspielungen auf Social-Media-Zombies, die ihr Handy nicht mehr aus der Hand legen können, an die nicht ganz so aufwendigen und dramatisch inszenierten Folgen von Black Mirror. Tatsächlich findet Tom Schillings Protagonist schnell heraus, dass er die Macht hat, das Verhalten seiner Umwelt, der "anderen" aktiv zu beeinflussen.

Lars Eidinger spielt in Ich und die Anderen Tristans exzentrischen Chef

In jeder Episode wünscht sich Tristan etwas anderes. Mal ist es die Sehnsucht, von allen gesehen zu werden, mal der Wunsch, dass niemand mehr lügt. Jedes Mal wacht Tristan in einer Version seiner Realität auf, in der die zwischenmenschlichen Karten komplett neu gemischt werden. Ich und die Anderen ist somit eine ziemlich effektive Auslotung von Liebe, Freundschaft, Selbstwertschätzung und der Frage, wie wir in einer zunehmend technologisierten und durchkapitalisierten Welt miteinander umgehen.

Statt es bei einer Gesellschaftsanalyse zu belassen, tut das Sky-Original etwas, was nur wenige deutschsprachige Serien in den letzten Jahren getan haben: Es pfeift auf Konventionen und wirft seinen Protagonisten von einer absurden Situation in die nächste.

Ich und die Anderen vereint Peniswitze, Musical-Einlagen und Helge Schneider-Absurdität

Zu keinem Zeitpunkt traut man sich vorauszusagen, was in der nächsten Szene passieren könnte. Jedes neue Szenario, jede neue Episode beginnt erst einmal ruhig, eskaliert von da an aber zusehends. Eine mehrminütige durchchoreografierte Musical-Einlage, die genau so viel zu lange dauert, dass sie einem mindestens so unangenehm wird wie der angestrengt lächelnde Tristan? Kein Problem. Eine Kunstausstellung, die zu 99 Prozent aus absurden Abbildungen weiblicher Geschlechtsteile besteht? Why not. Eine dramatisch inszenierte Clubszene, die beinahe in einer kannibalistischen Verschlingungsorgie à la Das Parfum - Die Geschichte eines Mörders endet? Ich und die Anderen macht es einfach.

Ich und die Anderen-Macher David Schalko feierte bereits mit der Serie Braunschlag Erfolge

Braunschlag - S01 Trailer (Deutsch) HD
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Irgendwann ist man nicht einmal mehr überrascht, dass Tristans Mutter vom Rücken ihres vor langer Zeit verstorbenen und anschließend ausgestopften Reitpferdes aus mit ihrem Sohn telefoniert. Die schönste Szene der gesamten ersten Staffel dürfte in ihrer Absurdität selbst Helge Schneider Respekt abverlangen, und der ist immerhin für dadaistische Humor-Meisterwerke wie 00 Schneider - Jagd auf Nihil Baxter verantwortlich:

Tom Schillings Hauptfigur bekommt von seiner neurotischen Schwester eine Nachbildung des Penis’ seines Vaters in einem Glasbottich geschenkt. Während Tristan das täuschend echt aussehende "Kunstwerk" skeptisch beäugt, kommt sein Chef (Lars Eidinger) in einer Art Pyjama auf einem Segway in den Raum gefahren. Seine einzige Frage: "Was ist das für ein schönes Objekt?!"

Das Sky-Original Ich und die Anderen ist die (bisher) beste deutschsprachige Serie des Jahres

Tristan und Julia haben Probleme, die sich nicht so einfach lösen lassen

Es ist schwer zu erklären, was genau Ich und die Anderen von Regisseur David Schalko (u.a. Braunschlag) so unfassbar fantastisch macht. Vielleicht ist es das ungewöhnliche Konzept, das im Vergleich zu ähnlich introspektiven Drama-Serien unfassbar erfrischend und anders wirkt. Wahrscheinlich liegt es aber auch daran, dass nahezu jeder einzelne Aspekt der Serie spannend und gut umgesetzt scheint.

Tom Schilling passt perfekt auf die Rolle des immer leicht gereizt wirkenden Tristan, der nie wirklich sympathisch, aber doch nachvollziehbar ist in seiner Überforderung. Auch der Rest der Hauptcharaktere ist super besetzt – wenn auch nicht gerade divers. Visuell überrascht einen Ich und die Anderen immer wieder mit neuen Bildern, die mit angemessen melodramatischer Musik unterlegt sind.

Selbst die Dialoge machen richtig viel Spaß und klingen im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Serienproduktionen nicht so, als hätten sich die Verantwortlichen nicht zwischen trockener Exposition und überzeichnetem Theater-Schauspiel entscheiden können. Wenn die Zukunft deutscher Serienproduktionen aussieht wie Ich und die Anderen, dann freue ich mich drauf. Und denke bis dahin weiter über eine Frage aus Staffel 1 nach, die ich einfach nicht mehr aus dem Kopf bekomme: "Halten sie einen glücklichen Mord für möglich?"

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