Birdman oder (das unverhofft perfekte Hype-Erlebnis)

30.01.2015 - 09:20 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Birdman20th Century Fox
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Seit Donnerstag läuft Birdman oder (die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit) auch in den deutschen Kinos. Es folgt ein Bericht über eine fantastische Reise mit dem Hype-ICE.

Wir schreiben das Jahr 2014. Es ist ein schwüler Sommertag in Sankt Augustin bei Bonn im schönen Nordrhein-Westfalen. Eigentlich muss ich zur Uni, eine der letzten Vorlesungen des Semesters steht an. Aber natürlich tue ich das, was jeder vernünftige Student tun würde: Ich mache mir erstmal Frühstück und setze mich an den Computer. "Homeoffice!", raune ich mit schmeichelhafter Stimme dieser hässlichen Fratze namens Gewissen in meinem Kopf zu, dann schiebe ich eben jenes mit einem dezenten Kopfrucken zur Seite und beginne meine übliche Routine, einschlägige Webseiten abzusurfen.

Einige wenige belanglose Posts auf Facebook und anderthalb Katzenvideos später lande ich auf einer kleinen Seite namens moviepilot und plötzlich sehe ich ihn: Birdman oder die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit... Aha, generischer Superheldenfilm Nummer 85!? denke ich mir und klicke auf den Artikel. Aber Moment mal. Das ist nicht Marvel. Das ist Alejandro González Iñárritu, eines der vielversprechendsten Regietalente der heutigen Zeit. Und das ist Michael Keaton, gibt's den Teufelskerl etwa noch? Und Zach Galifianakis spielt auch mit! Und Emmanuel Lubezki macht die Kamera!! Mein Interesse war geweckt und ich sah mir den Trailer an.

Dieser erste Einblick in Birdman und auch der etwas später folgende zweite Trailer waren wie die Krallen eines Greifvogels, der aus dem Nichts vom Himmel herabstürzte, mich vom Boden hob, durch die Lüfte trug, mir Dinge zeigte, die ich so noch nie gesehen hatte, meinen Horizont erweiterte und mich mit der Wucht eines Dampfhammers auf einen unter uns vorbeiratternden Zug fallen ließ, auf dem in großen, goldenen Lettern das englische Wort HYPE prangte. Diesen gefährlich weiter an Fahrt aufnehmenden Zug sollte ich für den Rest des Jahres nicht mehr verlassen. Nur war das kein stinknormaler Zug. Es war ein verdammter ICE.

Zeitsprung

Knapp drei Monate später beginne ich mein Praktikum in der Redaktion von moviepilot. Inzwischen sind die ersten Kritiken zu Birdman eingetroffen. Und diese unterstützen nicht nur meine ohnehin hohe Erwartungshaltung, sie schrauben sie auch noch weiter in luftige Höhen, denn hier wird beizeiten sogar das Superlativ des Meisterwerks in den Mund genommen. "Von der Besetzung bis zur Umsetzung ein Triumph auf jeder kreativen Ebene, der die Industrie elektrisieren, Arthaus- sowie Mainstreamkinogänger gleichermaßen bezaubern [...] und Michael Keatons Karriere frischen Wind verleihen wird", so die euphorische Kritik der Variety . Wow. Hoffentlich kann ich diesen Film bald sehen ...

Wieder anderthalb Monate später ergibt sich zu meinem großen Glück eine Gelegenheit, schon einige Wochen vor dem offiziellen deutschen Kinostart eine frühe Pressevorführung von Birdman zu besuchen. Damit ich diesen heiß erwarteten Schatz von einem Film auch ja nicht verpasse, verlasse ich die Redaktion extra früh, checke auf dem Weg zur U-Bahn die Route zum entsprechenden Kino noch fünf Mal mit meiner Handy-App, steige in den Waggon und lasse mich, eingequetscht zwischen den schwitzenden Körpern fremder Menschen, von diesem besonders alten und klapprigen Modell Berliner U-Bahn zu meinem Ziel tragen. Ich erreiche das Kino überpünktlich, pflanze mich neben angeregt plaudernden Kollegen in den Kinosessel und genieße in vollen Zügen das euphorische Gefühl, als das Licht gedimmt wird und der Kinoprojektor mit königlichen Fanfaren zum Leben erwacht. [Anm. d. Verf.: Es liegt im Bereich des Möglichen, dass die Fanfaren nur meiner Einbildung entsprangen.] Der Film beginnt.

War es das wert?

Knappe zwei Stunden später trotte ich neben den Kollegen aus dem Kino. Und siehe da: Es ist das geschehen, was in 95 % aller Kinoerlebnisse geschieht, bei denen man sich im Vorfeld durch Trailer und euphorische Meinungen anderer Menschen zu sehr mitreißen lässt und die Kontrolle über seine eigene, animalisch wild gewordene Erwartungshaltung verliert: Enttäuschung machte sich breit.

Zumindest war das bei vielen meiner Kollegen der Fall. Ich hingegen schwebte auf Wolke sieben - ach was, wie ein Vogel schwebte ich sogar über Wolke sieben. Ich war und bin von Birdman absolut begeistert und nachhaltig beeindruckt. Der Film hat für mich ein äußerst seltenes Kunststück vollführt, das einer Show des Cirque du Soleil in meinem Bauernkaff-artigen Heimatort gleichkommt. Die Trailer von Birdman packten mich am Schlafittchen und versprachen mir nicht zu viel oder zu wenig, sondern genau das, was das Wesen des Filmes ausmacht. Und dieses Wesen passt nun einmal zu mir wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, wobei diese Redewendung die Wirkung des Filmes schon durchaus gut beschreibt. Im besten Sinne.

Zynischer Rundumschlag

Birdman ist ein groteskes Künstlerporträt, eine überragende Showbiz-Satire, die uns Zuschauer an dem gestörten Bewusstseinsstrom seiner geplagten Hauptfigur teilhaben lässt, im Rundumschlag sowohl modernes Blockbusterkino als auch Populärkultur, Kritikertum, soziale Vernetzung, Theater und Schauspiel satirisch behandelt und das Ganze mit seiner visionären Musik und Kameraführung zu einem einzigartigen Stück Kino verbindet. Ja, dieser Film will Kunst sein und ja, das gefällt bei weitem nicht jedem. Wenn ein Film so experimentell, ambitioniert und eigenwillig daherkommt, wird es immer Menschen geben, die davon nicht so angetan sind, die den Film als nervig, belanglos und/oder prätentiös betiteln. Tatsächlich musste ich in ausufernden Gesprächen mit Redaktionskollegen feststellen, dass ich mit meiner Begeisterung fast alleine auf weiter Flur bin, die meisten fanden den Film "ganz nett" oder bewerteten ihn als "absolut nichts Besonderes". Und auch wenn für mich jeder grundsätzlich erst einmal einen Vogel hatte (heh), der diesen Film nicht ähnlich abfeierte wie ich, so kann ich es im Nachhinein durchaus nachvollziehen, wenn einen Birdman nicht komplett vom Hocker haut, wenn man dem Film in seinen Thesen widerspricht.

Und das zeigt mir einmal mehr, wie wenig man über Geschmack streiten kann und dass es für ein gutes oder in diesem Fall sogar perfektes Filmerlebnis nicht nur einen guten Film braucht, sondern auch einen Empfänger, der dazu passt. Ich persönlich habe große Probleme mit dem Superheldenkino von heute, liebe aber experimentelles Meta-Kino, das sich auf starke Schauspieler fokussiert und versucht, andere Wege einzuschlagen als die längst totgetrampelten Pfade der Filmkunst. Und da Birdman genau diese Aspekte bedient, gehöre ich quasi zum dankbarsten Publikum, das sich ein solcher Film wünschen kann. Die Reise, die ich seit dem ersten Trailer mit dem Hype-Zug angetreten habe, hat, so oft sie sonst schief geht, so oft der Zug sonst entgleist, in diesem Fall tatsächlich ein glückliches Ende gefunden. Der Zug ist sicher und ohne Verspätung im Bahnhof angekommen - für mich ein wahrhaft seltenes Erlebnis.

He's a Hollywood clown in a lycra bird suit.

-Yes, he is. But he's going out on that stage and risking everything.

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