Ein schlaksiger Mann in violettem Trainingsanzug und Haarnetz bindet sich die Schuhe. Die Coverversion von Hotel California der Gypsy Kings setzt ein. Er trocknet seine Hände und greift sich eine Bowlingkugel. An seiner Linken blitzen mehrere dicke Ringe und der lackierte Nagel des kleinen Fingers. Er hebt die Kugel und nimmt das Ziel ins Visier. Fast meditativ gleitet seine spitze Zunge plötzlich über die polierte Oberfläche der Kugel. Er wirft. Die Kugel rollt über gewachstes Parkett. Strike. Es folgt ein kurzer Tanz. Sein Name ist Jesus Quintana. Nicht zu Unrecht, denn er bowlt wie ein junger Gott.
John Turturros Charakter aus The Big Lebowski ist ein ist ein fabelhaftes Beispiel dafür, wie eine Nebenfigur in einem Pinselstrich entworfen und zum Leben erweckt wird. Eine Kunst, die Joel und Ethan Coen wie kaum ein anderer beherrschen. Es ist ein besonderes Auge für Details und Gespür für die Atmosphäre und Witz nötig, um so stilsicher Charaktere zu etablieren. Insbesondere, wenn wir berücksichtigen, dass schon die Hauptcharaktere ihre Extravaganzen haben. Nichtsdestotrotz glänzen die Randfiguren bei den Coen-Brüdern durch ihre Eigenarten.
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Seltsamkeit im Übermaß
Jüngst widmeten sich die Coen-Brüder in Hail, Caesar! mit Verve dem Studiosystem des Hollywoods der 50er Jahre. Auch hier verstecken sich hinter George Clooneys leichtgläubigem und dümmlich dreinblickendem Baird Whitlock oder Josh Brolins manischem Organisationstalent Eddie Mannix ein paar Figuren, die die eigentlichen Handlungsträger in kurzen Momenten überstrahlen. Beispielsweise die Klatschreporterinnen Thora und Thessaly Thacker (beide Tilda Swinton), die in einem Halbsatz nicht nur den Studioverantwortlichen kritisch auf den Zahn fühlen, sondern noch vor dem Punkt auch den Beruf ihrer jeweiligen Zwillingsschwester durch den Schmutz ziehen können. Natürlich ohne zu erkennen, dass sie einander beruflich wie äußerlich fast bis aufs Haar gleichen.
Oft sind es sogar mehrere solcher Charaktere, die ihren mehr oder weiniger kurzen Eingang in die Geschichten der Coen-Brüder finden. Nehmen wir nur Jesus Quintana. Er ist nicht der Einzige, der vom Dude einige missbilligende Blicke zugeworfen bekommt. Da wäre auch noch Knox Harrington (David Thewlis), der seltsam belustigte Videokünstler in Maude Lebowskis (Julianne Moore) Entourage. Oder Brandt (Philip Seymour Hoffman), der bemühte Butler im Dienste des Millionärs Jeffrey Lebowski (David Huddleston). Auch in anderen Filmen müssten wir meinen, dass eine solche Zahl an Charakteren, die eigentlich genau das Gegenteil eines zielführenden Effektes an sich haben, die Dynamik eines Films stören. Die abstruse Odyssee O Brother, Where Art Thou? quillt nur so über vor schrulligen Randfiguren. Sei es der blinde Besitzer eines Radiosenders, der gewalttätige einäugige Bibelverkäufer Big Dan Teague (John Goodman), der gleichzeitig ein Mitglied des Ku-Klux-Klans ist, oder der aufmerksamkeitssüchtige Gangster Babyface Nelson (Michael Badalucco).
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Verschnörkelung und Schrulligkeit
Aber die Coens machen natürlich ein wenig andere Filme. Oft verschnörkelt kommen die seltsamsten Vorfälle zusammen und entspinnen sich zu Handlungsbögen, die mal mehr, mal weniger und mal gar nicht aufgelöst werden. Die Randcharaktere sind in gewisser Hinsicht die fleischgewordenen narrativen Schlenker, die sich die Coens auch in ihren geradlinigsten Filmen nicht verkneifen können. Natürlich sehr zur Unterhaltung der Zuschauer. Selbst in True Grit begegnen Rooster Cogburn und die jugendliche Mattie Ross irgendwo im Hinterland von Arkansas einen Sonderling im Bärenpelz, der ihnen nicht nur eine Leiche hinterherträgt, sondern sich unter anderem auch als Zahnmediziner verdingt. Oder ein Mitglied in Ned Peppers Bande, das sich offensichtlich nur über Tierlaute verständlich zu machen weiß.
Es ist allerdings auch genau dieser Charme, der zu einem Erkennungsmerkmal der Gebrüder Coen geworden ist. Eine gewisse Schrulligkeit, die an der einen Stelle ganz selbstbewusst von den Charakteren vor sich her getragen wird und andernorts nur durch Mundart, Kostümierung oder das generelle Erscheinungsbild einer Figur zum Ausdruck gebracht wird. Aber immer passen diese Figuren irgendwie ins Bild. Ob nun Steve Buscemis Chet aus Barton Fink, der brutale Biker Schrägstrich Kopfgeldjäger Leonard Smalls (Randall Cobb) in Arizona Junior, der zunächst der Fantasie des Protagonisten entspringt oder Marge Gundersons (Frances McDormand) unangenehm anhänglicher Ex-Klassenkamerad Mike Yanagita (Steve Park) in Fargo.
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Nicht an jeden werden wir uns erinnern, aber das hat auch etwas Schönes. Bei jedem Schauen geht uns noch einmal ein Licht auf. Es ist eine ständige Wiederentdeckung. Und wenn wir sie wiedersehen, bleibt uns nur, mit der Zunge zu schnalzen - denn wir wissen gar nicht, wie die jeweilige Szene anders hätte aussehen können.
Welche Randfigur aus einem Coen-Film findet ihr am bemerkenswertesten?