Unersättliche Fleischeslust im Kannibalenfilm

15.07.2013 - 08:50 UhrVor 11 Jahren aktualisiert
Die Weiße Göttin der Kannibalen
Medusa/Anchor Bay
Die Weiße Göttin der Kannibalen
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Der heutige Ausflug ist sicherlich nichts für zartbesaitete Gemüter. Im zweiten Teil unserer Reise durch die cineastischen Untiefen Italiens wagen wir den Vorstoß in die blutige Welt des Kannibalenfilms. Hannibal Lecter kann sich warm anziehen.

Mit der anstehenden Etappe durch die filmische Subkultur Italiens verlassen wir die nunmehr vertrauten Sphären des Giallos, die wir im vorangegangenen Teil der Minireihe gemeinsam erkundet haben. Im Folgenden weicht der urbane Lebensraum einem unendlichen Blätterdach aus tropischer Regenwaldvegetation. Denn zwischen den Jahren 1970 und 1980 zog es eine Vielzahl italienischer Genre-Regisseure verstärkt in Richtung Äquator, um vor exotischer Kulisse Menschen fressende Ungeheuer in Szene zu setzen. Der dabei entstandene Korpus an Kannibalenfilmen zählt mit Abstand zu den drastischsten Schöpfungen der südländischen Filmindustrie. Willkommen in der Grünen Hölle, willkommen in den Untiefen des Exploitationfilms.

Selbstverständlich sollte der Kannibalenfilm nicht als genuin italienisches Filmgenre begriffen werden. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts widmeten sich US-amerikanische Produktionen wie King of the Cannibal Island (1908), Buster and the Cannibal’s Child (1912) und Cannibal Island (1956) den sogenannten Menschenfressern (Lexikon der Filmbegriffe). Nichtsdestotrotz weist das heutzutage im kollektiven Gedächtnis verankerte Genrebild deutliche Spuren italienischer Filmkultur auf. Verantwortlich hierfür zeichnen Regisseure wie Umberto Lenzi, Ruggero Deodato, Joe D’Amato und Sergio Martino. Mit radikalen Machwerken wie Mondo Cannibale (1972), Nackt unter Kannibalen (1977), Die Weiße Göttin der Kannibalen (1978), Nackt und zerfleischt (1980), Lebendig gefressen (1980), Man-Eater – Der Menschenfresser (1980) sowie Die Rache der Kannibalen (1981) provozierten sie wiederholt handfeste Kontroversen, die mitunter Sanktionen durch die Justiz nach sich zogen.

Cannibal Holocaust stellt zweifelsfrei ein Paradebeispiel in Bezug auf ungeahnte wie unliebsame Konsequenzen dar. Das hierzulande als Nackt und zerfleischt beworbene Werk folgt dem Anthropologen Harold Monroe (Robert Kerman) auf eine Rettungsmission in den Amazonas-Regenwald. Dort sucht der Wissenschaftler nach vier verschollenen Dokumentarfilmern. Abgesehen von einigen sterblichen Überresten gelingt es Monroe jedoch nur, deren gedrehtes Material zu bergen. Anhand der gefundenen Aufnahmen offenbart sich ihm peu à peu die sadistische Natur der vermeintlich harmlosen Filmcrew. Obwohl Ruggero Deodatos Werk berechenbar blieb, provozierte es dennoch durch grenzwertige Gewaltdarstellungen beachtliche Resonanz. Abseits der expliziten Verstümmelungen und Schändungen sorgte insbesondere der Anblick einer gepfählten Dame für zahlreiche Unannehmlichkeiten. Der blutige Effekt wirkte für die italienischen Behörden derart realistisch, dass sie den Filmemacher vor Gericht zitierten. Dort oblag es Ruggero Deodato, schlüssig nachzuweisen, dass keiner der Schauspieler für die Produktion mit dem Leben bezahlt hatte (Whatculture!). Um der Wahrheit genüge zu tun, muss hierbei erwähnt werden, dass der Regisseur an seiner Misere nicht vollkommen unschuldig gewesen ist. Schließlich hatte er die Schauspieler zuvor per Vertrag dazu verpflichtet, für die Dauer eines Jahres dem Filmbusiness den Rücken zu kehren (arte).

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