Backups sind wichtig, davon kann jedes Kind dieser Zeit ein Lied singen. Während heute unser halbes Leben in Form von tausenden von Dateien unterschiedlichster Formate irgendwo in den Tiefen in- und externer Festplatten schlummert, waren die Menschen der Zwanziger Jahre von Technik noch nicht allzu abhängig. Das mühsam zusammengedrehte Filmmaterial von Robert J. Flaherty versauerte nicht auf einer Festplatte, es schwebte auch in keiner Cloud herum. Nein, es lag schlicht und einfach auf dem Boden. Dem Verderben war es trotzdem geweiht, denn als Flaherty seine Zigarette darauf fallen ließ, flammten die leicht entzündlichen Filmstreifen auf und ließen nichts als ein Häufchen Asche zurück. Auch ein Backup hätte da nichts mehr retten können. Aber von vorne.
Wieso eigentlich nicht eine Kamera mitnehmen?
Als der junge Robert J. Flaherty 1910 zum ersten Mal zur Hudson Bay geschickt wurde, um für die Kanadische Eisenbahn das Land zu erforschen, ahnte er noch nichts von dem Platz, den er einmal in der Welt des Films einnehmen sollte. Sein Job des Entdeckers und Prospektors erfüllte ihn mit Zufriedenheit, und hätte ihn vor seiner dritten Expedition nicht sein Chef darauf aufmerksam gemacht, dass er auf seine Reise in ein so spannendes Land doch eine Kamera mitnehmen könne – er wäre wohl von allein nie darauf gekommen.
So aber kaufte er eine Kamera von Bell & Howell, ein wenig Ausrüstung und weil er von der Kunst des Filmemachens bisher noch so gar nichts verstand, belegte er einen dreiwöchigen Schnellkurs in Kinematographie bevor er schließlich aufbrach. Mit großem Enthusiasmus und der Vision, Geschichte und Geografie künftig untermalt von bewegten Bildern lehren zu können, füllte er in den folgenden Jahren hunderte Meter Film – und zerstörte sie mit seiner Zigarette innerhalb weniger Sekunden.
Ein Anderer wäre vielleicht in tiefe Depressionen verfallen, nicht jedoch Robert J. Flaherty. Er sammelte und sparte eisern, um schließlich 1920 erneut in den hohen Norden aufzubrechen – mit dem Vorsatz, diesmal alles besser zu machen. Sein Ansatz war nun ein ganz anderer: Der Jäger Nanook (eigentlich Allakariallak) und seine Familie standen fortan im Zentrum des Films. Er sagte ihnen, was er sich für sein Werk vorstellte – sie setzten es in die Tat um.
Nervenzerreißende Spannung vs. schnöde Realität
Sie setzten es in die Tat um – genau hier liegt der Kern der Geschichte, der Flaherty mit seinem Resultat namens Nanuk, der Eskimo erst großen Erfolg und später nicht wenig Kritik einbringen sollte. Je fremdartiger und traditioneller desto besser, dachte sich nämlich der Filmemacher und vergaß dabei ganz seinen eigenen Anspruch an einen realitätsgetreuen Dokumentarfilm. Die abgeänderten Namen der Hauptdarsteller und die Tatsache, dass die junge Nyla eigentlich gar nicht Nanooks Frau war, fiel vielleicht kaum ins Gewicht, Robert J. Flaherty schreckte jedoch auch vor echter Gefahr nicht zurück.
Es ist eine der bekanntesten Szenen aus Nanuk, der Eskimo: Ein paar Männer mit dicken Fellkapuzen scheuchen eine Gruppe Walrösser auf, schleudern ihre Harpunen und versuchen, das langsamste Tier daran aus dem Wasser zu ziehen. Was im Film heroisch wirkt, war in Wirklichkeit alles andere. Nanook und seine Männer jagten in der Realität bereits mit Gewehren und wahrten lediglich für die Kamera den Schein. Panisch vor Angst, von dem riesigen Tier ins eiskalte Wasser gezogen zu werden, riefen sie nach bewaffneter Verstärkung. Und Flaherty? Der gab vor, sie nicht zu verstehen und drehte in Seelenruhe weiter die Kurbel seiner Kamera.
Möchte noch jemand ein leckeres ‚Nanuk‘?
Trotz aller fragwürdigen Methoden – der Erfolg gab Robert J. Flaherty erst einmal recht. Sein Werk wurde auf der ganzen Welt gezeigt, und als der Filmemacher und seine Frau später nach Berlin reisten, konnten sie dort ein Eis mit dem Bild ihres Helden und der Aufschrift „Nanuk“ kaufen. Auch in den folgenden Jahren kehrte der US-Amerikaner immer wieder hinter die Kamera zurück, drehte unter anderem 1926 Moana, einen Film ähnlichen Konzepts, diesmal allerdings in der Südsee. Verbunden blieb sein Name allerdings immer mit seinem viel beachteten Erstlingswerk, dem sogar viele Jahre später noch in Serien wie Die Powerpuff Girls Tribut gezollt werden sollte. Die schönste Werbung für den Film lieferte aber ein schmissiger Broadway-Song:
Polar bears are prowling,
Wintry winds are howling,
Where the snow is falling,
There my heart is calling:
Nanook! Nanook!
Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1922 bewegte:
Fünf Filmleute, die geboren sind
05. März 1922 – Pier Paolo Pasolini, Regisseur von Die 120 Tage von Sodom
27. Mai 1922 – Christopher Lee, Saruman aus Der Herr der Ringe: Die Gefährten
10. Juni 1922 – Judy Garland, die kleine Dorothy aus Der Zauberer von Oz
14. November 1922 – Veronica Lake, Pin-Up und Mädchen aus Sullivans Reisen
24. Dezember 1922 – Ava Gardner, Hollywood-Ikone aus Filmen wie Die barfüßige Gräfin
Drei Filmleute, die ihr Debut feierten
Walt Disney mit Tommy Tucker’s Tooth
Darryl F. Zanuck adaptiert das Theaterstück Storm
Rin Tin Tin, der Schäferhund in The Man From Hell’s River
Drei Ereignisse der Filmwelt
04. März 1922 – Uraufführung von Nosferatu, eine Symphonie des Grauens
27. September 1922 – Uraufführung des ersten 3D-Langfilms The Power of Love
26. November 1922 – mit Lotusblume wird der erste große Technicolor-Film veröffentlicht
Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
16. April 1922 – Vertrag von Rapallo zwischen dem Deutschen Reich und der RSFSR
27.-31. Oktober 1922 – Marsch auf Rom von Benito Mussolini
04. November 1922 – Howard Carter entdeckt die Grabstätte des Tutanchamun