Vor mir die weiße, leere Seite. Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen, während ich diese ersten Zeilen schreibe. Die Aufgabe lautet, meinen "liebsten Kinomoment" zu Papier zu bringen oder besser formuliert diesen auf dem PC festzuhalten. Welch eine Herausforderung im Angesicht des immerwährenden Sturms der Erinnerungen.
In Gedanken an diesen einen "Kinomoment" versunken, schweift mein Blick ab von den geschriebenen Worten durch das Fenster. Die Bäume mit ihren rötlich gefärbten Blättern, die sich im herbstlichen Sturm winden, erregen meine Aufmerksamkeit. Den letztlich vergeblichen Kampf der Blätter gegen die Kräfte der Natur, ihr letztes Aufbegehren vor dem Fall ringt mir Bewunderung ab. Doch früher oder später werden sie unwiderruflich fallen, so wie sich der Schleier des Vergessens langsam lichten wird und die Erinnerungen an vergangene Tage zurückkehren. Gedanklich kehre ich zurück in die Tage des Frühlings, jene Tage meiner frühen Jugend, die meinen ersten Berührungspunkt mit der Welt des Kinos darstellen sollten. Zunächst sind es nur Erinnerungsfetzen, Bilder in loser Abfolge, vergleichbar einem Kaleidoskop. Ich erspähe wie durch eine sich aufklarende Nebelwand Gänse, einen Apfel und ein Messer. Nein, auch wenn an dieser Stelle die Vermutung nahe läge, es handele sich um eine frühkindliche Erinnerung an einen St. Martin-Festtagsschmaus, so ist es doch etwas anderes. Aber wie passt dies alles zusammen? Es sind Bilder, die zu einer Erinnerung verschmolzen sind. Diese sind nicht zeitlich fixiert auf den "einen Moment", sondern Teil eines Gefühls, des Gefühls, das meine Leidenschaft für das Kino geweckt hat. Dieses entwickelte sich langsam, verfestigte sich schließlich und mündete in dem, was das Kino heute für mich bedeutet. Es sind also Kinomomente, die ich nicht losgelöst von den anderen betrachten kann, sondern die einander bedingen.
Die Mosaike der Erinnerung fügen
sich zusammen, ich sehe einen kleinen Jungen in einem dunklen Kinosaal, dessen
Ausmaße vermutlich viel kleiner waren als sie auf diesen vielleicht fünf- oder
sechsjährigen Dreikäsehoch gewirkt haben müssen. Dieser überraschende Kinobesuch
war ein Sprung in das Neue und Unerwartete, der in unbekannte Welten entführte
und verzauberte. Eine große flimmernde Leinwand erhellte den Saal und
Kinderaugen leuchteten wie bei einer vorgezogenen, weihnachtlichen Bescherung. Mit
gebannter Faszination sah der kleine Junge Gänse, die majestätisch durch die
Lüfte glitten, unter ihnen die immer kleiner werdenden Landschaften mit ihren Seen, Hügeln und den Behausungen
der Menschen, kurzum ein Moment erhabener Schönheit, ins Gedächtnis eingebrannt. Auf
dem Rücken einer dieser Gänse saß ein winziger, mutiger Junge mit einer roten Zipfelmütze, der mit seinen tierischen Freunden in luftige Höhen emporstieg,
stets auf der Suche nach Abenteuern. Es war die Geschichte der
"wunderbaren Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen"
und der erste Moment, in dem ich das Medium Kino bewusst wahrnahm.
Voller Begeisterung ob des
Gesehenen bettelte ich meine Mutter förmlich an, diese magischen Momente von
Neuem erleben zu können. Der Wunsch ging alsbald in Erfüllung und genau hier setzt die Erinnerung an den Apfel ein. Ein blutroter, verführerisch aussehender Apfel, gereicht aus der
knochigen Hand einer alten Frau an ein Mädchen, deren Lippen
so rot wie Blut, deren Haut so weiß wie Schnee und deren Haar so schwarz wie
Ebenholz war. Es handelte sich um "Schneewittchen und die sieben
Zwerge". Eine Wiederaufführung in den 80er Jahren. "Schneewittchen" war
wiederum ein neuer, ein auf den ersten Eindrücken aufbauender Kinomoment, denn
erstmals ging es hier für Kinderaugen durchaus spannend und gruselig zu, ganz
anders als noch bei Nils Holgersson. Vielleicht wurde durch diese, meiner ersten
Begegnung mit dem Unheimlichen, einer durchaus düsteren und am Ende doch
hoffnungsvollen Welt der Fantasie, mein Faible für übersinnliche, gruselig-märchenhafte
Stoffe geweckt, für die ich mich bis heute begeistern kann. Die Glut war längst entfacht, nun wurde das Feuer geschürt.
Das Messer war schließlich das Symbol, das meine Leidenschaft für das Kino
manifestierte und formen sollte. Einige Jahre zogen ins Land, doch
dann sah ich zum ersten Mal einen Realfilm im Kino. Und eine Szene bzw. ein Dialog, den
heute vermutlich jeder kennt, wurde zur Initialzündung.
"Nick, geben Sie ihm ihre Brieftasche!"
"Aber wieso denn?"
"Sehen Sie denn nicht, er hat ein Messer!"
"Das ist doch kein Messer!" "Das ist ein Messer!"
Lachen erfüllte den Saal und ich erzählte jedem meiner
Freunde von diesem tollen Kinomoment. Diesen Dialog, natürlich aus
"Crocodile Dundee", werde ich immer als einen meiner schönsten
Kinomomente in Erinnerung behalten, weil ich hiermit meinen Kino-Einstieg in die Welt des
Realfilms verbinde. Plötzlich fühlte ich mich oder glaubte es zumindest, auch als kleiner
Junge schon ein wenig in der Welt der Erwachsenen angekommen zu sein, weil man
Filme schauen durfte, die nicht nur von Gleichaltrigen gesehen wurden.
Diese Kinomomente, die für andere unbedeutend sein mögen, aber für mich die
ganz besondere Magie des Kinos versprühen, verbinden sich zu meinem ganz
persönlichen Moment, in dem ich das Kino lieben lernte und es schließlich zu dem machte, was es noch
heute für mich bedeutet. Eine Liebe, die unerschütterlich ist.
Wieder wandern meine Blicke hinaus zu den Bäumen. Der Sturm hat nachgelassen und ein Gedanke verfestigt sich: Die Blätter mögen fallen, nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann, doch die Erinnerung bleibt. Neue Blätter werden am Baum der Erinnerung wachsen, so wie auch das Kino immer wieder neue Erinnerungen schaffen wird.
***
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Denk daran: Stimme ab für Deutschlands Lieblingskino 2017!
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