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Das emotionale Gefängnis der Freizügigkeit

01.06.2016 - 09:05 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Michael Fassbender in »Shame«
Prokino
Michael Fassbender in »Shame«
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Im Monat Juni widmen wir uns diesmal den großen Gefühlen – Begehren, Obsession, Leidenschaft. Im Film spielen diese Emotionen oft eine zentrale Rolle, und das äußert vielfältig. Ich widme mich ihrer Bedeutung in Steve McQueens Beitrag über den von Michael Fassbender verkörperten Sexsüchtigen Brandon in »Shame«.

Leidenschaft umfasst in seiner Bedeutung Liebe und Hass, aber auch die intensive Verfolgung eigener Ziele. Im ursprünglichen Sinn beinhaltet sie etwas Zerstörerisches, aber im heutigen Sprachgebrauch findet diese negative Auslegung kaum noch Gebrauch.

Im Filmmedium finden wir zuhauf zentrale Figuren, die sich ihrer Leidenschaft zu sehr hingeben und krankhafte Züge annehmen, - die Leidenschaft wird zur Obsession. Natalie Portmans emotionaler Kampf mit dem Druck des Erfolgs umzugehen, der über Leichen gehende Ben Whishaw auf der Suche nach dem lieblichsten Duft der Welt oder der nach Perfektion strebende Schönheitschirurg Antonio Banderas.

Sie alle sind gefangen in einem Kreislauf, in einem Labyrinth ohne scheinbaren Ausgang, wie auch Michael Fassbender in Shame.



Wer den Film noch nicht gesehen hat, sollte jetzt nicht mehr weiterlesen.

In der Sexsucht gibt es keine wirkliche Befriedigung und keine Intimität, aber es gibt die Scham. Und beim Versuch, diese unaushaltbare Scham loszuwerden, landet man schnell bei der nächsten Fantasie, bei der nächsten bedeutungslosen sexuellen Begegnung. George N. Collins, Sexualtherapeut

»Ich bin süchtig. Süchtig nach diesem einen Moment der Klarheit, der Sicherheit der wohltuenden Monotonie, die für nur wenige Sekunden Freiheit bedeutet. Ich kann nicht aufhören, nein. Die Endlossschleife ist mein Zuhause, mein Körper mein Gefängnis. Ich fühle die Scham. Scham, weil ich nicht stark genug bin, um mich der Abwärtsspirale zu entziehen.«

Steve McQueens Beitrag über die Sexsucht ist kalt, fast emotionslos, genau wie seine Figur Brandon, die eigentlich kaum als solche gelten kann, sondern eher als Typus. Die meisten Schauplätze, die uns der Film zeigt sind mit wenig Farbe durchzogen.Trostlos fast steril wirkt das Apartment, die in Melancholie getauchten Nächte New Yorks, mit ihren oberflächlich gezeichneten Nachtclubs und Vergnügungen sind nicht weniger unbefriedigend. Brandons Leben wird einseitig dargestellt, aber auch offen. Zwischen den schlicht gehaltenen Einstellungen ist wie erwartet eine Menge Sex zu finden. Dieser ist zwar in warme Farben getränkt und ästhetisch gesehen makellos, jedoch eine lustlose Lust, mehr eine Notwendigkeit. Es ist das zwanghafte Begehren eines gefangenen Individuums in der Stadt, die niemals schläft. Dem Zuschauer wird Interpretationsfreiraum geboten und doch ist es zweifelsohne die Einsamkeit, die Perspektive Brandons, die uns in der Beschaffenheit der schlichten, aber eleganten Optik nahe gelegt wird und uns letztendlich zu seinen Leidensgenossen macht.
Es ist ein Phänomen. Ich habe Leute getroffen, deren Leben davon bestimmt ist. Und wenn es real ist, muss man sich damit beschäftigen, darüber nachdenken. Ich habe keine Antworten, aber man muss Fragen stellen, darauf aufmerksam machen. Michael Fassbender

»Ich lief. Ich lief um mein Leben, so schien es mir. Weg von meiner Schwester, weit fort von dieser untragbaren Situation, die sie mit in meine Wohnung gebracht hatte. Der melancholische Klaviertanz und der flotte Notenschritt ließen mich leichtfüßig durch New Yorks hell erleuchtete Straßen gleiten. Ich machte meinem Ärger Luft und schuf einen Rückzugsort im Freien, nur für den Moment der Notwendigkeit.«

Man kommt zu dem Schluss, dass McQueen nicht wie erwartet über die Sexsucht erzählt. Er nimmt sie auseinander und lässt sie uns auf unsere Weise miterleben. Er zeigt sie mit langen Takes und Einstellungen, wenn Emotionen an die Oberfläche geraten umso mehr, denn Gefühle sind für Brandon der Grund für sein inneres Chaos. Er kann mit ihnen nicht umgehen. Brandon weint stille Tränen, als er Carey Mulligans Interpretation von New York, New York lauscht, hat gelegentlich Ausraster, weil er seine Privatsphäre für seine Schwester einbüßen muss und hadert mit der schmerzlichen Erkenntnis, dass er wohl für normale Beziehungen nicht geschaffen ist, als der Versuch eines netten Abends mit seiner Kollegin an der Kommunikation scheitert.

Der Film durchdringt uns, mit seinem Sog aus Melancholie, Einsamkeit und Freizügigkeit. Er macht uns klar, was es heißt mit der Sucht zu leben. Die Verzweiflung, ohne Ausweg, der Drang weiter zu machen als einzige Konstante im Leben, die Notwendigkeit der täglichen Dosis Sex. Brandon ist ein Getriebener, der im Schatten wandelt, immer auf der Suche nach einer schnellen Nummer, um seinen nervösen Geist zu beruhigen.

Jede Sexszene war eine weitere Möglichkeit, dem Publikum diesen Charakter zu erklären: Wenn er sich mit Prostituierten trifft, hat er die Situation unter Kontrolle. Dann ist er mit seiner Kollegin im Bett, und als es intim wird, kriegt er keinen hoch. Das zeigt seine Geistesverfassung. Dann der Dreier, die Tiefe der Sucht, der Zwang, die Abscheu, die Einsamkeit. Michael Fassbender

»Sie macht mich wahnsinnig. Sie saugt sie auf, meine letzte Energie mit ihrer labilen Persönlichkeit und trostlosen Existenz. Raubt mir den letzten Nerv, mit ihrem Wunsch nach Nähe, die ich nicht ertragen, die ich nicht spüren kann. Nicht mal für sie. Meine nach brüderlichen Liebe dürstende Schwester. Es bleibt das Verantwortungsgefühl, welches schwer auf meinen Schultern lastet. Wieder ein Gefühl, dass ich nicht gebrauchen, sondern nur verdrängen kann, denn mein Herz ist der Dechiffrierung nicht mächtig. Wenn selbst der Moment der Klarheit nur schmerzlich erreicht werden kann, dann wandelt er sich zu einem Moment des Schams, die Scham die den Kreislauf weiter vorantreibt und dafür sorgt, dass ich ihn weiterhin aufrechterhalte. Immer weiter entferne ich mich von der Intimität, nach der ich mich insgeheim sehne.«

»Shame« ist nicht einfach als Charakterstudie zu betiteln. Das Filmerlebnis fühlt sich wie ein vorsichtiger Blick unter die Oberfläche an, darauf bedacht dem Zuschauer keinen positiven Blickwinkel zu zeigen. Der Erzählstrang traut sich nicht zu weit ins offene Meer der unterdrückten Gefühle hinaus, sondern es ist an uns als Zuschauer zu entscheiden, ob man wirklich bereit ist tiefer in das ungewisse Dunkel vorzudringen. McQueen hält uns auf Abstand. Die Beschaffenheit des Charakters Brandon lässt schwer eine Identifikation zu, denn das Thema sollte ja auch nicht glorifiziert auf uns wirken, sondern unser Interesse wecken sich damit zu beschäftigen.

Wir haben im Film bewusst offen gelassen, was genau Brandon in seinem Leben fehlt. Ich wollte, dass jeder Zuschauer sich selbst darüber Gedanken macht, was ihn in diese Sucht treibt. Dabei geht es nicht darum, die Sucht als etwas Geheimnisvolles oder Exotisches zu zeigen, sondern sie im Gegenteil für das Publikum zugänglicher zu machen. Steve McQueen

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