Das erste Sci-Fi-Meisterwerk des Jahres entfaltet eine 134 Jahre lange Story voller Horror und Verzweiflung – und gruselt bis ins Mark

04.09.2023 - 18:05 UhrVor 2 Monaten aktualisiert
The Beast
Arte France
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Von 1910 bis 2044 reicht die Geschichte im großartigen Science-Fiction-Film The Beast, der uns in eine Spirale von Verzweiflung und albtraumhaftem Horror herabzieht.

Das Jahr 2044 ist so ruhig, so friedlich, so grauenerregend ausgeglichen in The Beast, dass die anschließende Reise durch die 134 Jahre davor wieder Luft zum Atmen gewährt. Für ein paar Minuten. Denn für den Rest seines Science-Fiction-Films hält Regisseur Bertrand Bonello (Nocturama) Überraschungen parat, deren Bilder einen noch lange verfolgen werden.

The Beast ist der bislang beste Film beim diesjährigen Festival von Venedig und ein Sci-Fi-Meisterwerk, in dem Realität und Fiktion virtuos verwoben werden. Ein Film, der einen in einer Minute schwärmen lässt und in der nächsten in existenzielle Verzweiflung stürzt.

In der Zukunft von The Beast müssen Gefühle ausgelöscht werden

Léa Seydoux (James Bond - Keine Zeit zu sterben) und George MacKay (1917) spielen die Hauptrollen in der Geschichte der Unterdrückung. Auf drei Zeitebenen trifft man ihre Figuren Gabrielle und Louis in The Beast an: 2044, 2014 und 1910.

Im Jahr 2044 sind die Menschen dank der Mechanisierung der Prozesse weitgehend überflüssig geworden und unterliegen der Herrschaft einer künstlichen Intelligenz. Gabrielle unterzieht sich einer Prozedur zur Reinigung ihrer DNA, um sich für einen besseren Job zu qualifizieren. Mit ihr lassen wir dramatische Erinnerungen früherer Leben Revue passieren.

Die Prozedur soll ihre Gefühle austreiben oder einfacher: sie zur Puppe abschleifen. Solchen Puppen, wie sie Gabrielles Ehemann im Paris des Jahres 1910 herstellt. Diese Gabrielle trifft den charmanten Louis. Sie könnten so etwas wie Liebe teilen, ihre gegenseitige Anziehung ist unbestreitbar. Beide treten in einen behutsamen Dialogtanz, flanieren durch Salons und Prachtstraßen, sie sind Ahnen von Celine und Jesse in den Before-Filmen. Die Angst verhindert jedoch den nächsten Schritt. Gabrielle leidet unter der Vorahnung, ein schreckliches Ereignis werde sie heimsuchen.

Ist das Biest ein Mann? Zum Beispiel Louis im Jahr 2014, eine frauenhassende Jungfrau, die sich an der Welt rächen will. In Los Angeles filmt der Incel seine Hasstirade, die Bonello dem Manifest des realen misogynen Terroristen Elliot Rodger entnommen hat. Währenddessen schlägt sich die einsame Schauspielerin Gabrielle in der Stadt der Engel durch, besessen von der Furcht vor einem Unglück.

Science-Fiction, Kostümfilm und Thriller werden miteinander verwoben

Das Sci-Fi-Drama basiert lose auf Henry James' Erzählung The Beast in the Jungle (bei der Berlinale 2023 lief eine weitere Verfilmung). Bonello entwickelt daraus einen verblüffenden Genre-Mix aus Science-Fiction, Kostümdrama und Home Invasion-Thriller. Der Thriller-Teil bildet das Hauptstück des Films. In der surreal-sonnigen L.A.-Stimmung lebt David Lynchs Mulholland Drive auf, bevor in einer Villa der Terror losbricht.

Zwischen Hollywood Hills, Belle Époque und Zukunftsvision bildet der Schwermut von Léa Seydoux' Gabrielle eine berührende Konstante. Ihre verzehrende Angst vor dem Unbekannten frisst sich durch die Zeitebenen.

Demgegenüber vollzieht George MacKay eine erstaunliche Verwandlung vom Gentleman zum ungelenken Einzelgänger, der seinen Hass in die YouTube-Leere hinausschreit. Gemeinsam bilden sie ein faszinierendes Schauspielduett, das den Film in dem verankert, was in der Zukunft als Mangel betrachtet wird: im Gefühl.

The Beast ist kein einfacher Film, der alle Deutungen auf dem Tablett serviert. Lässt man sich auf Bertrand Bonellos Werk ein, erlebt man ein 134 Jahre umspannendes Duett von der Sehnsucht nach Liebe, die nur von der Furcht übertroffen wird, die Liebe zu verlieren.

Die Erzählung der Unterdrückung von Gefühlen ist zeitgemäß und zeitlos. Sie betrachtet die Isolierung im Online-Zeitalter, genau wie die lähmende Sorge über falsche Entscheidungen. In jedem der drei Jahre in The Beast erkennt man unsere von pandemischen, klimatischen und anderen Katastrophen gebeutelten 2020er wieder. Große Science-Fiction wirft einen Blick durch die Zukunft auf die Gegenwart. In The Beast werden gleich drei Zeitebenen für uns als Spiegelkabinett arrangiert. Betreten auf eigene Gefahr.

The Beast hat noch keinen deutschen Starttermin.

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