Der Sommer, als Lost in Translation grandios wurde

20.08.2016 - 08:50 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
"I don't want to leave." - "So don't. Stay here with me. We'll start a jazz band."
Constantin Film/moviepilot
"I don't want to leave." - "So don't. Stay here with me. We'll start a jazz band."
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Mitunter sehen wir einen Film, über den alle Welt schwärmt, doch für uns ist er nur irgendein Film. Dann kommt das Leben, stubst uns an, öffnet unsere Augen, unser Herz... Auf einmal trifft er uns mit all seiner Wucht - und ist großartig...

Jeden Samstag stellen wir euch einen ganz besonderen Kommentar vor, der irgendwo auf moviepilot hinterlassen wurde, und von einem Film, einer Serie oder seiner ganz eigenen Geschichte erzählt, von einem Ereignis, von einem Leben, von euch. Wenn ihr einen solchen Kommentar findet, ganz gleich wo und wie alt er ist, klickt auf "Gefällt mir", schreibt der Person ein paar nette Zeilen ins Antwortfeld - aber gebt uns bitte auch Bescheid! Denn so ein Kommentar ist ein Kommentar der Woche!

Der Kommentar der Woche
Vielleicht brauchen manche Filme eine gewisse Stimmung, ein paar Kerben, die das Leben in unser Herz geschlagen hat, bevor er wirklich darin eindringen kann. Vielleicht ist Lost in Translation solch ein Film. Und vielleicht ist dieser Kommentar von Muffin Man einer der besten, die je dazu geschrieben wurde...

Close my eyes
Feel me now
I don't know how you could not love me now
You will know, and her feet down to the ground…

Sie saß in ihrem rosaroten Bikini alleine auf der weißen Treppe, die zur Bar heraufführte, und blickte in die Ferne. Ich trug schwarze Crocs, lange, schwarze Badehosen, ein weißes T-Shirt, auf dem „Altersheim“ draufstand, und einen Panamahut. So trat ich zum ersten Mal zu ihr.
Sie war eine slowakische Studentin, die sich den Sommer über als Animatöse verdingte, hier aber niemanden zum Reden fand. Ich war ein Schweizer Gymnasiast, der sich zu zwei Wochen inhaltlosem Brutzeln überquatschen gelassen hatte und mich nun zu Tode langweilte. Wir trafen uns in der entrückten Unwirklichkeit eines süditalienischen Strandhotels, in dem so viele Deutsche einkehrten, dass ein eigener Biergarten beim Pool eingerichtet worden war, der sich zu meiner Anlaufstelle und Auffüllstation numero uno gemausert hatte.
Es gibt Menschen, mit denen kann ich keinen Satz wechseln. Und es gibt Menschen, mit denen kann ich ungezwungen stundenlang über die sinnlosesten Sachen reden. Sie gehörte zu letzterer Kategorie.
Wir spielten Boccia um zehn Uhr morgens, zusammen mit ein paar Kölnern. Wir spielten Darts um 17 Uhr beim Biergarten (je höher der Alkoholpegel, desto besser traf ich die Scheibe). Und als sie eines Morgens Wassergymnastik am Strand leiten musste, sagte ich mir: „Scheiß drauf, ich mach auch Gymnastik!“
Nach ein paar Tagen merkte ich, dass ich jeglichen Appetit verloren hatte und nichts mehr essen konnte, dafür aber schlimmes Herzklopfen und Bauchweh bekommen hatte.
Es dauerte ein bisschen, bis ich den Grund dafür erkannte.

Wir standen an der Strandbar und tranken Cola.
„I’m so apathetic lately“, sagte sie.
„That’s no problem, I’m apathetic all the time! But I can make your apathy disappear…”, antwortete ich.
Nachdem ich fünf Weißbiere reingelassen und mit den Kölnern das Lied vom Dom geträllert hatte, hüpfte ich in den Pool, um als einziger weit und breit zu dem von ihr und ihren Kollegen einige Male am Tag durchgeführten „Club-Dance“ wie ein Bescheuerter mit den Armen zu wedeln und meinen schmächtigen Körper im Takt von „Celebration“, einem von mir und von ihr noch viel mehr verachteten Lied, nach links und rechts zu bewegen.
Sie lachte.
Und ich verlor mich in ihren runden, schönen Augen.

Im Fernsehen lief die Eröffnung der Olympischen Sommerspiele in Peking, und parallel dazu sah man Bilder des russisch-georgischen Krieges. Wie kann das nur sein?, fragte ich mich. Wie kann es auf dieser Erde auch nur eine Seele geben, die böse Gedanken hegt? Wie kann es nur Menschen geben, die anderen Leuten Schmerzen zufügen? Sie quälen, töten? Ist das dieselbe Welt, in der ich lebe? Bin ich wirklich Teil davon? Ist sie Teil von mir?

Am letzten Abend war alles anders, als ich es mir gedacht hätte. Vor einigen Tagen noch hatte ich so schnell wie möglich heimkehren wollen, doch nun bereitete mir der Gedanke an die Abreise Kummer.
Sie ging mit Fragebögen herum, die die Gäste ausfüllen sollten. Eine Ziehung würde stattfinden, und der Gewinner würde „30 centimetres of pleasure and joy“ erhalten. Meinen Vorschlag, mir alle ihre Bögen zum Ausfüllen zu geben, schlug sie mit einem Lächeln aus. Sie war aber bereit, sich später mit mir ablichten zu lassen. Ich wartete also zusammen mit meinen Kölnern, mit denen ich eifrig „Hausmeister Krause“-Zitate austauschte und ein wenig mein kölscher Deutsch übte, bis die Ziehung vorüber war (die 30 Zentimeter stellten sich als Champagnerflasche heraus) und sie zu mir trat. Sie hielt mir ihren Zeigefinger entgegen, dessen Spitze sie an einer der Kerzen, die sie aufstellen musste, verbrannt hatte. Ich ging ein paar Schritte mit ihr zur Poolbar, wo sich nun Gäste zum Tanzen tummelten. Auf halber Strecke dorthin blieb ich jedoch unschlüssig stehen. Ich blickte mich um.
Dann kam mir die Idee.
Wie ein Held eilte ich zur Bar im Hauptgebäude und bat die Bardame in einem Mix aus Italienisch und Deutsch um etwas Eis. Sie verstand sofort.
Mit in eine Serviette gewickelten Eisstücken, mit denen man seinen ganzen Kopf kühlen konnte, lief ich wie der reinste Ritter in schimmernder Rüstung zurück zu ihr, überreichte ihr den Eisbeutel und sagte: „Here… for your finger.“
Sie sah mich ungläubig an. Dann rief sie mit echter Überraschung: „Oh! You’re such a gentleman! Thank you!“
„You’re welcome“, murmelte ich verlegen.

Wir schossen die Photos, und dann war die Zeit für den Abschied gekommen.
Zuerst sagte ich den Kölnern leb wohl („Jungs, isch hab dat Ding jedreht!“), und dann trat ich zum letzten Mal zu ihr. Sie trug ein schlichtes, dunkles Kleid, ich ein feurig-rotes Hemd.
Wir blickten uns an.
Umarmten uns.
Zu sagen gab es nichts mehr.

Als ich am nächsten Tag zu Hause ankam, hatte ich Schmerzen, schlimmer als zuvor, und war völlig niedergeschlagen. Beim Gedanken an sie verkrampfte sich mein ganzer Körper, und da half weder Alkohol noch die Dauerbeschallung an Nick Cave oder „All I Wanna Do (Is Be With You)“ von Paul Weller.
Die Olympiade ging weiter. Der Krieg ging weiter.

Und dann traf ich eines Abends spontan die Entscheidung, mir „Lost in Translation“ ein zweites Mal anzuschauen. Die erste Sichtung lag Jahre zurück. Damals hatte ich mit dem Film nichts anfangen können.

Bob umarmt Charlotte in diesem Strom aus vorbeiziehenden Menschen, flüstert ihr etwas ins Ohr, verabschiedet sich. Er steigt ins Taxi, sieht ihr nach. Es erklingt „Just Like Honey“. Das Taxi schlängelt sich durch Tokio. Straßenschilder. Hochhäuser. Zum Flughafen…
Ich saß mit Tränen in den Augen und Klos im Hals da.
Und erkannte endlich, warum dieser Film so grandios ist.

Listen to the girl
As she takes on half the world
Moving up and so alive
In her honey dripping beehive…

Den Originalkommentar findet ihr hier.

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