Die Frau in den Dünen und die hypnotische Wirkung von Sand

25.07.2011 - 08:50 Uhr
Aktion Lieblingsfilm: Die Frau in den Dünen
Toho Film/ moviepilot
Aktion Lieblingsfilm: Die Frau in den Dünen
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In der Aktion Lieblingsfilm schreiben moviepilot-User über ihre Lieblingsfilme und wie sie zu diesen wurden. Ein User erzählt, wie Die Frau in den Dünen dazu kam, diesen Platz für sich beanspruchen zu dürfen.

Wie aus einem langweiligen Abend im November ein Erlebnis wurde, wie kontraproduktiv Alkohol beim Filmegucken ist und warum die hypnotische Wirkung einiger Sandkörner ein zeitloses Meisterwerk offenbart: Mein Beitrag zur Aktion Lieblingsfilm.

Es war einmal … ein langweiliger Novemberabend, die leere Wohnung eines Freundes und viel Langeweile: Wenn diese dann nicht mehr auszuhalten ist, kommt man auf die interessantesten Ideen. Zum Beispiel mittelschwer alkoholisiert (Idee Nummer 1) einen zweieinhalb Stunden langen und etwas sperrigen japanischen Kunstfilmklassiker aus dem Jahr 1964 aus dem fremden DVD-Regal zu greifen und spontan eine Sichtung zu beginnen.

Ich ahnte ja nicht einmal ansatzweise, was mich erwartete! Die Frau in den Dünen von Hiroshi Teshigahara bietet einen Trip, auf den man sich schlicht nicht vorbereiten kann. Dabei ist die Handlung simpel: Ein Insektenkundler, der in einer Wüste unterwegs ist, verpasst den Bus zurück und nimmt die Gastfreundlichkeit einer Frau an, die in einer Hütte in einem rund 10 Meter tiefen Sandloch lebt. Am nächsten Morgen bemerkt der Mann, dass er nicht aus der Vertiefung heraus kann – er ist ein Gefangener und fortan gezwungen, zusammen mit seiner Gastgeberin gegen die Wüste anzukämpfen, die fortwährend droht, die Hütte zu verschütten.

Leider gestaltete es sich so, dass ich die Handlung am nächsten Morgen im Internet nachlesen musste, denn diesbezügliche Erinnerungen schienen verschollen, wohl auch, weil ich den englischen Untertiteln im späteren Verlauf nicht mehr so ganz folgen konnte – einzig die gewaltigen Sandmassen hatte ich noch vor Augen. Millionen feiner, kleiner Sandkörner! Diese stellen nämlich die eigentlichen Hauptdarsteller dar, unaufhörlich rieselnd und fließend und alle Oberflächen bedeckend. Selbst die Körper der Menschen ziert eine dünne, staubige Sandschicht. Wüste und Sand, zweieinhalb Stunden lang, gegen die sich die Protagonisten behaupten müssen … Ich war mir nicht sicher, was für ein Werk ich am Vorabend erleben durfte, aber es war ein Film, der mich nicht losließ. Vorsichtig gab ich Teshigaharas Film hier auf Moviepilot sechs Punkte, doch immer wieder schlichen sich die Bilder in meinen Kopf, wie der feine Sand in die Hütte der Protagonisten. Irgendwann gab ich ihm sieben, später sogar acht Punkte. Spätestens da wusste ich: die DVD muss her! In Deutschland ist der Film natürlich mal wieder nicht erhältlich, aber in Großbritannien kostete er nur knapp 7 Euro.

Es folgte die Zweitsichtung, nüchtern, gefasst und vorbereitet, dachte ich zumindest. Doch weit gefehlt: Die Frau in den Dünen entführte mich bereits in den ersten Minuten ein zweites Mal. Hilflos versank ich zusammen mit den Protagonisten in der magischen Welt des stetig fließenden, rieselnden Sandes. Doch nun konnte ich all das bewundern, was mir bei der ersten Sichtung entgangen ist, neben dem pointierten Score und den aufopferungsvollen Darstellern sind auch die inhaltlichen Komponenten überzeugend: die vermeintlich schlichte Grundgeschichte bildet nur das Fundament für einen äußerst vielschichtigen Diskurs über Systeme aller Art, über Abhängigkeiten, die sich herausbilden, über Dünen, die für ein einzelnes Individuum einfach nicht zu bezwingen sind. Dass der Film voller Allegorien steckt ist der Buchvorlage von Kobo Abe zu verdanken. Die Interpretationsmöglichkeiten sind vielfältig, lassen ideologische oder gar politische Intentionen genauso zu wie das pure Erleben des existenzialistischen Ist-Zustandes, des Hier und Jetzt, aus dem es für die Protagonisten kein Entrinnen gibt.

Die Frau in den Dünen ist ein Film, dem man sich nicht entziehen kann, sofern man die nötige Geduld besitzt. Denn nicht nur inhaltlich, sondern auch handwerklich ist Teshigahara und seinem Team ein meisterhafter Film geglückt. Es herrscht nicht nur ein ständiger Kampf von Mensch gegen Sand, auch Licht und Schatten scheinen in ewigem Konflikt gefangen. Beides wurde in herausragenden Bildkompositionen eingefangen. So bietet Die Frau in den Dünen unter anderem eine atemberaubend-hypnotische Liebesszene, in der in riesigen Großaufnahmen der Sand auf zwei sich windenden, schwitzenden Körpern allgegenwärtig erscheint. Die elegische Kameraarbeit hat nicht nur in den stummen Totalen ihre Stärken, sondern auch dann, wenn der Protagonist versucht, sich die Sandhügel nach oben kämpfend, aus seinem Gefängnis auszubrechen: Der feine Sand lässt ihn einsinken, langsam rollen die ersten Körnchen, bis nach und nach eine ganze Düne unter ihm nachgibt und den Insektenkundler unbarmherzig nach unten zieht – ein cinematographisch famoses Schauspiel, das aus einzelnen Körnern eine großes Kollektiv bildet.

Die Frau in den Dünen ist ein existenzialistischer, hypnotischer Trip in elegischen Schwarz-Weiß-Bildern, ein Meisterwerk aus Schweiß und Sand, das den Zuschauer genauso unbarmherzig in seine Gewalt nimmt wie die Protagonisten. Es ist ein ganz besonderer Film, pure Kunst, einmalig und bei jeder Sichtung erneut bewegend. Und zeichnet nicht genau das einen Lieblingsfilm aus?


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